Hätte es von Martin Luther eine Krankenakte gegeben, sie wäre dick gewesen. Zahlreiche organische und psychosomatische Krankheiten plagten ihn zeitlebens, und dem Tod sprang er mehr als einmal von der Schippe, bevor er im Februar 1546 in seiner Geburtsstadt Eisleben an multiplem Organversagen starb. Nach einem üppigen Abendessen legte sich Doktor Luther ins Bett; ihm war etwas unwohl.
Mitten in der Nacht fand man ihn sterbend vor. Nach späteren Aussagen seines Kammerdieners Ambrosius versuchten eilig herbeigerufene Ärzte zwar noch, ihn mit einem Einlauf ins Leben zurückzuholen, doch ohne Erfolg. Der Darminhalt ergoss sich in die Laken, und damit war klar: Der grosse, vielfach angefeindete Reformator und sprachgewaltige Bibelübersetzer war von seinen Qualen erlöst.
Von Erwartungen befreien. Martin Luther war ein Getriebener. Erst wurde er vom Vater angetrieben, ein überdurchschnittlich guter Lateinschüler zu sein. Beide, Vater und Mutter, züchtigten den hochbegabten Buben. «In jener Zeit war es normal, seine Kinder zu schlagen. Die pädagogischen Vorstellungen im 16. Jahrhundert waren wenig zimperlich», sagt Béatrice Acklin Zimmermann, Theologin und Dozentin an der Universität Fribourg.
Sie geht davon aus, dass der Entscheid des jungen Luther, ins Augustinerkloster einzutreten, auch ein Versuch war, sich von den Erwartungen und Zwängen der Familie und der Gesellschaft zu befreien. «Die überlieferte Geschichte, er habe in einem heftigen Gewitter in Todesangst ein Gelöbnis abgegeben, mag schon zutreffen. Doch der Eintritt in ein Kloster war immer auch ein gesellschaftlicher Ausstieg.»
Von Dämonen getrieben. Viel Befreiung schien der junge Mönch jedoch nicht erfahren zu haben. Nun trieben ihn Dämonen, und er erlebte den Teufel als reale Gestalt. Er haderte mit Gott, fastete, betete und zwang sich zu exzessiven Bussritualen. «Luther war ein hochsensibler Mensch und litt unter grossen Ängsten: unter Versagensangst, wenn es um seinen Vater ging. Und unter der Angst, von Gott fallen gelassen zu werden.» Das meint die Schriftstellerin Waldtraut Lewin.
Sie stellt in ihrem historischen Luther-Roman «Feuer» denn auch die Krankheiten in einen Zusammenhang mit dieser Grundproblematik. «Bereits in jungen Jahren litt Luther unter Drehschwindel, Krampfanfällen und Ohnmachten. Er glaubte an ein Werk des Teufels, man kann aber davon ausgehen, dass es sich um Symptome der Menièrschen Krankheit handelte, die ihn an den Rand des Aushaltbaren brachte.»
Der Zerrissene. So könne man auch einige seiner politischen Entscheidungen in einen Zusammenhang mit seiner psychischen Konstitution stellen, meint Lewin. Sobald ihm beispielsweise klar wurde, dass die aufständischen Bauern sich nicht in die Schranken weisen liessen, schlug seine einstige Unterstützung in blanken Hass um: Er rief die Fürsten auf, den Bauernaufstand blutig niederzuschlagen.
Ebenso kompromisslos blieb er in der Judenfrage. «Luther konnte sehr selbstgerecht sein», so Waldtraut Lewin. «Sobald ihm widersprochen wurde, blieb er stur, verweigerte das Gespräch und schlug mit unerwarteter Härte zurück.» Hat Luther nicht nur mit seinem Mut, sondern auch mit seiner Zerrissenheit die Welt beeinflusst?
Um Vertrauen gerungen. Der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann betont, dass eben diese Mischung aus Angst und Mut Luther zu dem gemacht habe, was er war. «Luther war ein Kind des Mittelalters, und er befreite sich in einem anstrengenden und schmerzlichen Prozess von den Abhängigkeiten der Kirche.» Er habe um Vertrauen gerungen und die Angst überwunden, so Drewermann.
Sein individueller Weg, seine persönliche Rettung sei zur Rettung vieler geworden. «Die therapeutische Wirkung seiner Erfahrung, dass Gott dem Menschen die Gnade schenkt und niemand sie durch Leistung und Perfektion erarbeiten kann, hat eine neue Zeit eingeläutet.» Luther habe die dogmatische Form des Glaubens verlassen und die Macht der Kirche grundlegend in Frage gestellt. «Er folgte seinem Gewissen und wurde zum Sprachrohr Gottes.»
Der Mutige. Auch Béatrice Acklin Zimmermann betont, Luthers Radikalität und seine Kraft, sich gegen den Zeitgeist zu stellen, stehe für alles andere als ein wohltemperiertes Christentum. «An der Schwelle zur Neuzeit stehend, stellte er sich mit Haut und Haar dem Kampf gegen die herrschenden Strukturen der Kirche.»
Auch die Bedeutung seiner sprachgewaltigen Bibelübersetzung sei kaum zu überschätzen. «Seine Sprache ist volksnah und dennoch intellektuell anspruchsvoll – und nicht zuletzt auch voller Humor.» Und dennoch: Martin Luther wurde im Alter immer misanthropischer. Er zog sich zurück, verhärtete sich, züchtete Feindbilder und litt unter Teufelsangst.
«Es schien ihm schwergefallen zu sein, die Güte kontinuierlich beizubehalten. Es ging ihm wohl die Kraft aus», vermutet Eugen Drewermann. «Aber er hatte die Grösse, sich seiner Zerrissenheit zu stellen und all die Widerstände gegen seine Ideen und seine Person auszuhalten. Was er in Gang brachte, wirkt bis heute nach und muss immer weiter entwickelt werden. Die Früchte seines Baumes ragen weit hinaus, wir müssen sie pflücken.»