Herr Sallmann, mögen Sie Luther?
Martin Sallmann: Sehr. Martin Luther war eine herausragende Persönlichkeit. Er war ein scharfsinniger Theologe und blieb stets Prediger und Seelsorger. Zugleich genoss er das Leben. Eine psychische und physische Robustheit brauchte er, um vor seinen Gegnern zu bestehen. Er stellte sich gegen die etablierte Kirche, es ging bald um Leben und Tod. Als er vom Papst exkommuniziert und vom Kaiser 1521 für vogelfrei erklärt wurde, wäre es um ihn geschehen gewesen, hätte ihn sein Kurfürst nicht entführt und auf der Wartburg in Sicherheit gebracht.
Worin liegt denn die Sprengkraft von Luthers Theologie?
Er hat die Freiheit Gottes gegenüber dem Menschen und die Freiheit des Menschen vor Gott völlig neu entdeckt: Das Heil erlangt der Mensch allein aus Gnade. Man muss sich das damalige Weltbild vergegenwärtigen. Es herrschte die Vorstellung, dass der Mensch das Leben auf das Jenseits ausrichten muss, um nach dem Tod vor dem Gericht zu bestehen. Luthers Einsicht, dass menschliches Leben allein durch Gott gerechtfertigt wird, war ein radikaler Gegenentwurf.
Derart konkrete Jenseitsvorstellungen wirken heute fremd.
Wir müssen uns der Distanz eines halben Jahrtausends bewusst sein und können Luthers Gebete und Schriften deshalb heute nicht einfach übernehmen. Dennoch bleibt seine Theologie relevant: Wir sind in die Welt entlassen im Vertrauen darauf, dass es gut kommt. Wir mögen scheitern. Doch insgesamt ist dieses Leben getragen. Daraus ergibt sich eine grosse Freiheit.
Der Freiheitsbegriff wird inflationär verwendet. Fast scheint es, wir hätten zu viel davon.
Die Freiheit, die Luther meint, bezieht sich allein auf den einzelnen Menschen vor Gott. Er war überzeugt, dass der Mensch bereits durch seinen Glauben gerettet ist und nicht eine schlechte Tat durch zwei gute aufwiegen kann.
Wer glaubt, kommt also sowieso in den Himmel und kann tun und lassen, was er will?
Nein. Mit der Freiheit geht eine Bindung einher. Luther begründet seine Ethik mit einem paradoxen Satz: Du bist ein freier Mensch und niemand untertan. Du bist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan. Er meint: Vor Gott bist du vollkommen frei in Jesus Christus. In dieser Welt aber bist du gebunden und sollst deinem Nächsten werden, was Christus dir geworden ist.
Luther war Antisemit. Sind seine Ausfälle nur die Schatten einer historischen Lichtgestalt?
Der späte Luther rief dazu auf, Synagogen anzuzünden. Seine Schriften hatten eine fatale Wirkungsgeschichte, als sich im 19. Jahrhundert die antisemitische Ideologie herausbildete. Diese Sätze, die bis in die Nazizeit hineinwirkten, müssen heute in aller Deutlichkeit zurückgewiesen werden. Trotzdem gilt es, sie in einem ersten Schritt im historischen Kontext zu lesen. Anfangs hatte Luther verlangt, dass die Juden besser behandelt werden. Dahinter steckte seine Hoffnung, dass das Evangelium die Juden überzeugen könnte.
Er wollte die Juden bekehren?
Luther hatte den Eindruck, dass das Evangelium den Juden bereits im Alten Testament gegeben sei. Es ging ihm also nicht um eine Bekehrung zu einer neuen, reformatorischen Lehre, sondern zur Entdeckung von etwas, das schon da sei.
Und aus Enttäuschung rief er zur Gewalt auf?
Das ist in der Forschung strittig. Theologisch wäre diese scharfe antijudaistische Zuspitzung nicht notwendig gewesen.
Für die Reformatoren gab es also nur einen Weg zum Heil, und das war der reformierte?
Nein. Die Reformatoren beanspruchten nicht die Absolutheit für die eigene Kirche. Luther sagte nicht, dass seine Theologie die einzig richtige sei. Er sagte vielmehr: Der einzige Weg zu Gott ist jener, den Gott auf uns zugeht. Auch Zwingli war überzeugt, dass sich das Evangelium durchsetzt, wenn es losgelöst vom Lehramt gepredigt werden kann. Die Reformatoren setzten demnach nicht die eigene Lehre absolut, sondern das Evangelium selbst.
Trotzdem sagte Luther zu den Schweizer Reformatoren: «Ihr habt einen anderen Geist.»
Das hat er gesagt nach dem Streit mit Zwingli über das Abendmahl. Da ging es um die Frage, wie Christus im Abendmahl präsent ist. Dieser Streit war schmerzhaft, wie übrigens auch die Abspaltung der Täufer in Zürich. Aber diesen zwei Konflikten steht die grosse Reihe von Gemeinsamkeiten unter den Reformatoren gegenüber. Der scharfe Satz sagt also nicht alles über das Verhältnis der reformatorischen Kirchen aus. Aber er steht für die Ecken und Kanten, die zu Luther gehören.
Die Differenzen führten dazu, dass in Deutschland viele Kirchen lutherisch sind, in der Schweiz dagegen reformiert.
Ja, es gab eine innerprotestantische Kirchenspaltung. Erst seit der Leuenberger-Konkordie 1973 anerkennen sich Reformierte und Lutheraner und pflegen Kirchengemeinschaft. Die Kirchen haben bis heute unterschiedliche Ausprägungen. Die reformierte Tradition etwa unterstützt vor allem den gesellschaftlichen Impuls, der Einzelne soll in die Welt gehen und dort wirken nach bestem Wissen und Gewissen. Aber ich würde solche Vielfalt als Reichtum beurteilen. Und ich würde die römisch-katholische Kirche in diesen Reichtum einschliessen, auch wenn es mit ihr keine Kirchengemeinschaft gibt.
Hätte es in der Schweiz auch ohne Martin Luther eine Reformation gegeben?
Was wäre, wenn – solche Fragen sind schwierig zu beantworten. Luther war eine Kristallisationsfigur in der damaligen Zeit. Er hat Gedanken auf den Punkt gebracht, die in der Luft lagen. Und er war die richtige Person, um den Kampf gegen die römische Kirche zu führen. Bis heute ist in der Forschung umstritten, wie stark Luthers Einfluss auf Zwingli war. Zwingli ist ein origineller Denker, der natürlich Luthers Schriften kannte, aber auch von anderen Traditionen geprägt wurde, vor allem etwa vom Humanisten Erasmus von Rotterdam.
Zwinglis Reformation hatte eine soziale Dimension. War Luther weniger sozial?
Luther und Zwingli setzten unterschiedliche Akzente. Bei Luther steht der einzelne Mensch vor Gott und fragt: Wie kann ich vor Gott bestehen? Zwingli hingegen denkt von der Stadt her: Wie kann unsere Gesellschaft vor Gott bestehen?
Die Reformatoren waren überzeugt, dass jeder Mensch eine unmittelbare Beziehung zu Gott aufbauen kann. Haben sie damit im Endeffekt die Kirche überflüssig gemacht?
Keineswegs. Die Kirche braucht es, damit das Evangelium verkündigt wird. Jede Generation muss in ihrer Sprache die Botschaft von der Freiheit im Glauben hören. Sind Sie allein mit Ihrem Christentum, sind Sie verloren. Wenn Sie zweifeln, wie es auch Luther getan hat, oder den Glauben verlieren, trägt Sie der Glaube einer Gemeinschaft. Und in der Gemeinschaft geschieht die Auslegung der Schrift, hier wird um ihre Interpretation gerungen.
Und diese Botschaft wird noch gehört?
Man kann heute leben, wie man will, und lebt gut dabei. Aber: Das Evangelium hat etwas zu sagen, das dem Mainstream, in dem wir heute leben, möglicherweise ganz fremd ist. Es kann neue Einsichten geben fürs Leben, überraschende, die querliegen zum gesellschaftlichen Konsens. Vielleicht ist es am Ende nur noch eine kleine Gruppe, die auf das Evangelium hören will. Aber das spielt keine Rolle. Schlussendlich geht es um die Frage, was einen im Leben trägt – und darüber hinaus.
Stimmt für Sie die Dimension, in der 2017 das Reformationsjubiläum gefeiert wird?
In aller Offenheit: Mir ist es ein bisschen unheimlich, wie gross das Jubiläum aufgezogen wird. Soll man das Evangelium wirklich mit Pauken und Trompeten verbreiten? Klar, die Kirche soll sorgfältig und mit höchster Qualität das Evangelium verkünden, auch mit neuen Formen. Aber am Ende geht es um etwas sehr Zerbrechliches: um existenzielle Fragen, um den Glauben im Leben und im Sterben.