Meine Religionslehrerin mit ihrem etwas strengen, beinahe verhärmten Antlitz wirkte ganz gelöst, wenn sie uns Primarschülern von Martin Luthers Leben erzählte. Ihre Lieblingsszene: der Auftritt des kleinen Mönchs 1521 beim Wormser Reichstag vor dem damals mächtigsten Mann der Welt, Kaiser Karl V. Für Luther ging es um Leben und Tod. Aber er widerrief seine Thesen nicht.
Wie David gegen Goliath siegt – diese Geschichte hat sich nicht nur bei mir, sondern bei vielen Menschen in Deutschland tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Im Geschichtsstudium in Konstanz fing ich aber an, am Lutherdenkmal zu kratzen. Nicht mehr der unbeugsame Mönch stand mir vor Augen. Plötzlich wurde die dunkle Seite des Reformators sichtbar: sein Appell, den Aufstand der Bauern blutig niederzuschlagen, seine sich in Mordlust steigernde Judenhetze und sein Lavieren mit den Fürsten.
Für jeden etwas. Hinzu kam das Jahr 1983. Zur 475sten Wiederkehr des Thesenanschlags zu Wittenberg verordnete Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende der DDR, das Erbe des evangelischen Reformators sozialistisch zu ehren. Meine moskauhörigen Mitstudenten lernten flugs um: Aus dem Bauernschlächter und Fürstenknecht Luther wurde der Wegbereiter der frühbürgerlichen Revolution. Auch ich lernte dazu: Luther liefert für alle Weltbilder die passende Projektionsfläche.
Seit Jahrhunderten klauben sich politische und religiöse Strömungen die passenden Brocken aus dem lutherischen Steinbruch heraus. Die Nazis bemühten Luther als Antisemit, die Aufklärer reklamierten ihn als Freiheitskämpfer, und die Pietisten feierten ihn als Wegbereiter der unmittelbaren, persönlichen Beziehung von Mensch und Gott.
Heute scheint die Erinnerungskultur im politischen Ideenwettkampf am Ende zu sein. Obsiegt hat der lutherbewirtschaftete Kapitalismus. Die Merchandise-Industrie hat von der Luthermütze bis zur Luthersocke, vom Luther-Playmobilfigürchen bis zur «Cappuccino-Schablone» mit der Lutherrose so alles durchdekliniert, was sich mit dem Wittenberger Reformator in klingende Münze verwandeln lässt.
Warten und Tun. Dass nun zum Jubiläumsjahr auch Lutherbier ausgeschenkt wird, ist kein Zufall. Schon lange avancierte der Reformator mit seiner beleibten Statur zum Schutzpatron der deutschen Biertrinker. Seine Trinksprüche befördern seine Popularität wohl mehr als seine theologische Rechtfertigungslehre.
Eine Strassenumfrage würde ergeben, da wette ich drauf, dass eine Luther-Sequenz von vielen mühelos erinnert werden kann: «Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es euch nicht geschmacket.» Wie so oft bei Luther-Sprüchen wurde auch diese derbe Lebensregel dem Reformator erst nachträglich zugeschrieben.
Weltuntergang herbeisehnen. Nicht anders ist es mit dieser Sentenz: «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute ein Apfelbäumchen pflanzen.» Diese Maxime passt nicht zu Luther. Der deutsche Apokalyptiker sehnte den Weltuntergang herbei und propagierte nicht das tatkräftige Handeln. Viel besser wäre dieser Ausspruch dem Tatmenschen Huldrych Zwingli in den Mund gelegt worden.
Denn der Schweizer Reformator mit seinen Visionen von einer gerechten Gesellschaft setzte auf soziales und politisches Gestalten. Wenn er sich auch mit Luther darin einig war, dass das Reich Gottes nicht auf Erden errichtet werden kann, so focht er doch dafür, dass der Abglanz der göttlichen Ordnung auf Erden durchschimmern sollte. Statt die Obrigkeit zur brutalen Bauernhatz zu ermuntern, setzte er die Abschaffung der Leibeigenschaft durch. So kam es unter den Zürcher Bauern, anders als im nahen Süddeutschland, zu keinem Aufruhr.
Nacheifern. Natürlich haben Luther und Zwingli vieles gemeinsam. Sie teilten die zentrale Idee, dass nicht die Hochleistungsfrömmigkeit der guten Werke das Himmelstor öffnet. Auch nicht der Kauf eines Ablassbriefs, eines scheinbaren Versicherungsscheins für das Jenseits also. Sondern allein die Gnade.
Beide Reformationen gingen von Anfang an eine Allianz mit den staatlichen Institutionen ein. In der Schweiz standen den Reformatoren aber bereits zu Beginn quasidemokratisch gewählte Stadtregimente gegenüber. In Deutschland endete dagegen die Obrigkeitsreformation erst mit dem Untergang des deutschen Kaiserreichs 1918, dessen Monarch Wilhelm II. noch der Idee des Gottesgnadentums nacheiferte.
Trotz allem. Als verschweizerter Deutscher, der Zwingli mehr als Luther zuneigt, war ich irritiert ob der Jahreswahl der Schweizer Feierlichkeiten. Warum soll 2017 das richtige Jahr für die helvetische Erinnerungskultur sein? Besser hätte man 2023 gewählt, als in Zürich altgläubige und reformierte Theologen über den neuen Glauben stritten.
Ein Datum, das auch selbstbewusst zeigt: Reformation ist ein Prozess, der nicht von Luther allein inspiriert wurde. Aber Zwingli ist Zürcher, und für alle anderen Kantonalkirchen würde eine Zwinglifeier bedeuten: dem Zürcher Lokalpatriotismus zu huldigen. Dann lieber den übermächtigen Luther zelebrieren – mit allen seinen Schattenseiten.
