Schwerpunkt 26. Oktober 2017, von Reinhard Kramm

«Es lebt und leidet der ganze Mensch»

Seele

Susanna Meyer Kunz glaubt nicht an die Unsterblichkeit der Seele. Sie hält sich lieber an die Vorstellung des Alten Testaments: Körper und Seele sind eins.

In diesem Dossier haben uns neun Menschen neun unterschiedliche Definitionen der Seele gegeben. Überrascht Sie das?

Nein. Unterschiedliche Menschen und Kulturen füllen den Begriff verschieden, das scheint mir klar. Für mich ist die Seele das, was den Menschen ausmacht.

Was meinen Sie damit?

Die Seele ist nicht vom Körper abgespalten, wie in der abendländischen Kulturgeschichte oft dargestellt. Diese Idee der Spaltung reicht bis in die kirchliche Tradition hinein, ist aber nicht christlich, sondern stammt aus der griechischen Philosophie. Ich halte mich lieber an die Vorstellung des Alten Testaments: Körper und Seele sind eins. Dieses Gefüge besteht, solange der Mensch atmet. Seele heisst auf Hebräisch «Nefesch»: Atem, Begehren, Leben.

Warum ist es problematisch, Seele und Körper zu trennen?

Es lebt und leidet immer der ganze Mensch. Etwa, wenn jemand an starken seelischen Schmerzen leidet, die sich körperlich äussern oder umgekehrt. Der Mensch ist eine Einheit von Körper, Seele und Geist.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich habe kürzlich eine junge Frau und Mutter begleitet, die eine schwere fortgeschrittene Krankheit hatte. Wie wir es in solchen Fällen oft tun, haben sie und ich ein Erinnerungsbuch für ihre drei kleinen Kinder verfasst. Das Buch soll den Kindern nach dem Tod der Mutter zeigen, wer diese war, wie sie ausgesehen hat, welches ihre Interessen waren. Wir haben auch Fotos gemacht. Der Patientin war es sehr wichtig, darauf schön auszusehen, sie hat sich extra dafür geschminkt. Ihre Körperlichkeit gehörte für sie zu ihrem Sein, zu dem, was sie ausmacht, zu ihrer Seele.

Und was fängt die Seelsorgerin mit dieser Einsicht an?

Ich möchte die Patientinnen und Patienten unterstützen, ihren Körper im Krankheitsprozess wahrzunehmen und auf ihn zu hören. Gleichzeitig achte ich auf die seelischen Prozesse oder Wandlungsprozesse der Menschen. Die Psychologin, mit der ich eng zusammenarbeite, sagt mir oft: «Jetzt hast du es besser.» Mit ihren Instrumenten kommt sie in gewissen Situationen nicht weiter.

In was für Situationen?

Wenn Menschen unbeantwortbare Fragen stellen: «Warum habe gerade ich diese Krankheit?» «Warum leide ich unverschuldet?» Oder wenn Angehörigebeim Abschied von einem geliebten Menschen enorm grosse Trauer empfinden. Als Seelsorgerin habe ich die Möglichkeit, ein Ritual zu gestalten. Ich kann Widersprüche stehen lassen. Aber der Raum, in dem ich als Seelsorgerin handle, ist unverfügbar. Ich kann nichts aus eigener Kraft herstellen und kann keinen «Erfolg» messen.

Kann die Seelsorgerin mehr, wenn es ums Sterben geht?

Nein. Aber Geburt und Sterben sind die letzten grossen Geheimnisse der Menschheit. Ich arbeite im Kantonsspital vor allem auf der Palliativstation, dort, wo sich die Menschen mit dem Sterben auseinandersetzen müssen. Die Psychologin sagt dann: «Es ist gut, dass du da bist.» Ein Sterbeprozess berührt Dimensionen, die ganz schwierig zu fassen sind.

Wie begleiten Sie die Menschen dabei?

Ich arbeite mit dem, was der Mensch mitbringt, und werte dies nicht. Ich erinnere mich an eine Frau, die an Unterleibskrebs litt. Sie entschied sich wegen starkem körperlichem Leiden für eine palliative Sedation. Das bedeutet: In der Sterbephase erhält sie Medikamente und schläft die letzten drei, vier Tage vor ihrem Tod. Das beeinflusst den Sterbeprozess nicht, aber sie stirbt ruhig.

Die Frau hatte einen Hochseesegelschein und war häufig mit ihrem Mann auf dem Meergewesen. Sie hatte die Vorstellung, in der palliativen Sedation entgleite sie mit dem Schiff an einen Ort, wo sie keine Schmerzen mehr habe und es ihr gut gehe. Mir war es sehr bedeutsam, sie und ihre Angehörigen darin zu unterstützen, dieses Bild wachzuhalten. Aber es geht nicht immer so harmonisch.

Wann wird es schwierig?

Manchmal ist es wichtig, dass Menschen die Gefühle von Schmerz und Trauer zulassen können. Im Alten Testament lobt «Nefesch», die Seele, Gott – aber sie kann auch wehklagen.

Für mich war es eindrücklich, die Mutter einer Flüchtlingsfamilie zu erleben. Ihr eineinhalbjähriges Mädchen verstarb im Spital, nachdem es drei Tage zuvor in einen Brunnen gefallen war. Nach dem Tod schrie die Mutter drei Stunden lang. Früher hätte man sie sediert oder in die Psychiatrie geschickt – das tut man heute dank interkultureller Kompetenz zum Glück nicht mehr.

Die Frau beruhigte sich, nachdem ihre vierjährige Tochter ihr erzählte, ihre verstorbene Schwester sei nun ein Pa­radiesvogel. Das ist eine Vorstellung im Islam. Die Tochter hat auch einen solchen Vogel gezeichnet, den wir der Mutter mitgaben.

Glauben viele Menschen, die Sie begleiten, an die Existenz der Seele?

Das ist ganz unterschiedlich. Interessant finde ich, dass auch manche Menschen, die nicht speziell religiös sind, das Fenster öffnen wollen, wenn jemand gestorben ist, damit die Seele gehen kann. Andere beobachten einen Leichnam und sagen: Er oder sie ist schon gegangen. Das ist eindrücklich. In solchen Momenten zweifle ich an meiner Vorstellung der Einheit von Körper und Seele.

Welche Seelenvorstellungen treffen Sie sonst noch an?

Die klassisch reformierte Vorstellung, dass Seele und Körper zusammenge­hören, existiert heute kaum mehr. Viele denken existentialistisch. Sie interessiert, was während der Krankheit mit ihrem Körper passiert und wie lange sie noch leiden müssen. Andere sind fasziniert von Reinkarnationsvorstellungen oder der Seelenwanderung.

Ich habe auch häufig mit alten Frauen zu tun, die vom Katholizismus geprägt worden sind und grosse Ängste vor dem Sterben haben. Sie wünschen sich Seelsorge, möchten hierzu aber keinen Priester sehen. Mit ihnen arbeite ich auf, welche Jenseitsvorstellungen sie ängstigen: etwa jene vom Fegefeuer, in dem angeblich Seelen geläutert werden, die nicht direkt in den Himmel gelangen.

Reden Sie den Frauen das Fegefeuer aus?

Nein. Ich schaue mit ihnen ihre eigenen Gottesbilder an. Das ist für manche neu, weil sie die katholischen Rituale nie hinterfragt haben. Einige merken, dass sie immer auch den Glauben an einen Gott mit guten und vergebenden Seiten hatten. Andere finden keinen neuen Zugang mehr, weil die beängstigenden Jenseitsvorstellungen so schwierig waren.

Was ist Ihr persönliches Verständnis: Stirbt die Seele mit dem Tod oder lebt sie weiter?

Ich kann keine druckfertige Antwort liefern. Ich sympathisiere stark mit der jüdischen Vorstellung, dass wir das Leben haben, das wir jetzt haben. Dieses hat einen Anfang und ein Ende, und dann geht es zurück zu Gott. Was danach passiert, weiss ich nicht genau. Ich hoffe und glaube, dass nach dem Tod nicht alles zu Ende ist.

Gibt es einen Anlass für diese Hoffnung?

Ja, eine politische Dimension. Es passieren Dinge auf der Welt, die einem sehr ungerecht vorkommen. Der Gedanke an ein jüngstes Gericht, wie es in der Bibel beschrieben ist, ist für mich deshalb auch hoffnungsvoll. Nicht in dem Sinn, dass jemand dabei vernichtet werden soll, aber in dem Sinn, dass Gerechtigkeit wieder hergestellt wird.

Was passiert bei der Auferstehung nach dem Tod, die die Bibel verheisst, mit der Seele?

Ich stelle mir vor, dass sich die Seele nach dem Tod verändert, wie es der Körper auch tut. Paulus führt im Neuen Testament aus, dass wir mit einem «geistigen Leib» auferstehen. Ich hoffe, dass bei der Auferstehung Seele und Leib zusammenkommen. Manche Menschen haben das Bild, dass sie ein Tropfen im Meer werden oder ein Wassertropfen im Kreislauf des Lebens. Ich finde das sehr schön, damit sympathisiere ich ebenfalls. Womit ich Mühe habe, sind Vertröstungstheorien.

Zum Beispiel?

Kürzlich begleitete ich eine Frau aus freikirchlichen Kreisen, die anfänglich alle Schmerzmittel ablehnte. Ihre Vorstellung war: Ich muss die Schmerzenerleiden, nachher kommt etwas Besseres. Das war sehr schwierig für das Pflegeteam, weil die Frau das Hier und Jetzt negierte.

Versuchen Sie, Menschen von solchen Vorstellungen abzubringen?

Nein, das ist nicht meine Aufgabe. Das sind erwachsene Menschen, und es ist ihr Sterben. Aber ich kann ansprechen, inwiefern sie an ihrer Haltung leiden. Oder fragen, ob es nicht eine andere Möglichkeit gäbe. Zum Beispiel kann ich diese Frau fragen, ob Leiden zu lindern nicht auch ein christliches Gebot ist.

Und wenn jemand Sie fragt: «Was geschieht nach dem Tod mit meiner Seele?»

Dann sage ich ehrlich, wie ich denke. Und ich lasse mich auf die Bilder meines Gegenübers ein. Ich habe beispielsweise einmal erlebt, dass ein Junge starb, der sehr gern Hockey gespielt hatte. Er hatte Leukämie und war lange behandelt worden. Er sagte mir, er gehe nur in den Himmel, wenn er dort Hockey spielen könne. Wir sprachen oft darüber.

Und das ist für mich Realität: Ich hoffe ganz fest, dass er dort, wo er jetzt ist, Hockeyspielen kann. Natürlich, wir wissen nichts. Aber ich hoffe, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist.

Susanna Meyer Kunz, 51

Die gelernte Pflegefachfrau und studierte reformierte Theologin ist verheiratet und hat zwei Töchter. Seit 2005 ist sie Spitalseelsor­gerin und Leiterin des Care Teams am Kantonsspital Graubünden in Chur. Sie ist Präsidentin der Vereinigungder Deutschschweizer Spital-, Heim- und Klinikseelsorgenden. Ihre Schwerpunkte liegen in der Palliative Care und in der Notfallseelsorge.