Wie kommt die Seele im Volksglauben vor?

Seele

Der Ethnologe: Die armen Seelen wollen erlöst sein.

«Körper und Geist vergehen mit dem Tod, die Seele ist unsterblich. Diese Vorstellung ist in nahezu allen Kulturen verbreitet, auch in den afrikanischen und chinesischen, mit denen ich mich eingehend befasst habe. Voraussetzung dazu ist jedoch der Glaube an eine Schöpfungsgottheit und an ein Jenseits.

Im Tod löst sich die Seele von der sterblichen Hülle und begibt sich als Geistwesen in eine andere Dimension. Stirbt ein Mensch aber, bevor er alles verarbeitet hat, was ihm auf der Seele lastet, kann sie nicht mit Gott, den Göttern oder Ahnen verschmelzen und verbleibt in einer Zwischenwelt. In der christlichen Kultur sind dies die armen Seelen, die wandeln müssen, bis sie erlöst werden. Von ihrem Umgehen ist in vielen Sagen die Rede. Sie machen mit Poltern, Klopfen oder als Lichterscheinung auf sich aufmerksam, damit die Lebenden ihnen mit Gebeten und guten Werken helfen, ihre Last loszuwerden.

Mit Seelenfenstern in alten Schweizer Häusern verbinden sich ebenfalls viele Sagen. Meist handelt es sich dabei um Lüftungsschlitze oder um Öffnungen, die durch das Verziehen des Holzes entstanden sind. Auch das verbreitete Fensterlein oben im Fenster war vor allem zum Lüften gedacht. Nach dem Tod eines Menschen wurde es jedoch geöffnet, damit seine Seele entweichen konnte.

Zu kurz gekommen. Nach dem Tod führt die Seele zwar eine eigenständige Existenz, zu Lebzeiten aber stehen Körper, Geist und Seele in einem Abhängigkeitsverhältnis. Was einem der dreien geschieht, hat Auswirkungen auf den ganzen Menschen. In unserer entspiritualisierten Gesellschaft hat es die Seele schwer, zum Zug zu kommen. Zu lärmig, hektisch und materialistisch ist unsere Lebensweise. Hier regiert eher der Geist. Umweltzerstörung und Massenvernichtungswaffen sind Beispiele dafür, wiesehr der Genius entgleisen kann. In den ursprünglichen Kulturen hingegen stehen die Menschen in ständigem Austausch mit den Seelen der Ahnen und fühlen sich verpflichtet, deren Erbe für ihre Nachkommen zu bewahren.»