«In der anthroposophischen Menschenkunde nach Rudolf Steiner steht die Seele im Zentrum. Aus ihr entwickelt er den geistigen und zuletzt den physischen Aspekt des Menschen. Das scheint zunächst ungewöhnlich. Doch die Seele ist das Unmittelbare. Sie, die Anima, ist, was unseren Leib bewegt. Trotz ihrer Unmittelbarkeit können wir die Seele nicht beweisen. Welch ein Widerspruch! Die Wissenschaft spricht von Psychologie, nicht aber von Seelenkunde.
Die Frage nach der Seele ist aber im heutigen Maschinenzeitalter wichtig; denn das Seelische als unmittelbar Menschliches scheint mir immer stärker bedroht, wenn sich Mensch und Maschine zunehmend verbinden. Seele ist Innerlichkeit. Und Innerlichkeit haben alle Wesen mit inneren Organen – Mensch und Tier also. Sie verfügen über Grundkräfte wie Lust und Leid, Angst, Sympathie und Antipathie.
Kosmisch. Im Alterswohn- und Pflegeheim Rüttihubelbad halten wir auf Wunsch die Totenwache während drei Tagen. Dieser in vielen Gegenden verbreitete Brauch ist aus anthroposophischer Sicht von grosser Bedeutung: Denn die Seele des Toten begibt sich auf ihren kosmischen Weg. Zwar befindet sich die Seele nicht mehr im Leib, bleibt erst aber noch an den Körper gebunden.
Mit der Totenwache begleiten wir die Seele, während sie sich vom Körper löst. Dabei schaut der Verstorbene auf sein Lebenspanorama bevor er sein Leben noch einmal rückwärts durchlebt vom Tod bis zur Geburt aus einer Aussenperspektive – das heisst aus der Sicht der anderen Menschen. Um die Reise der Seele zu unterstützen, lesen Anwesende aus dem Johannesevangelium. Denn diese kosmische Sprache versteht der Tote, während unsere irdische Sprache ihn kaum mehr erreicht.
Nach drei Tagen hat die Seele den Leib verlassen. Erst danach übergeben wir ihn der Erde oder dem Feuer. Nach anthroposophischem Verständnis begibt sich die Seele nun auf den Weg durch die kosmischen Sphären. Sie kehrt später wieder auf die Erde zurück, verkörpert sich und trifft dort die Seelen, mit denen sie karmisch verbunden ist.»
