Hinter Lukas Neuenschwanders Bürotisch steht kistenweise Orangensaft. Das neue Semester an der Pädagogischen Hochschule Bern naht, die Vereinigung der Studierenden, in deren Vorstand er ist, wird die neuen Studentinnen und Studenten mit einem Apéro begrüssen.
Obwohl Neuenschwander an der Schule so engagiert ist, befindet er sich auf dem Absprung. Als er vor sechs Monaten in der Schule, wo er ein Praktikum antrat, an einem Elternabend erzählte, dass er ein Transmann ist, fühlte er sich zur Schau gestellt. Dass die Schule seine Geschlechtsidentität aktiv kommunizieren wollte, hatte er zuerst begrüsst, doch dann empfand er den Anlass mehr als Vorsichtsmassnahme denn als Bekenntnis. Niemand sollte der Schule den Vorwurf machen, sie hätte etwas verheimlicht. Er sagt: «Ich erkannte in diesem Moment, dass ich nicht will, dass man Strategien ausarbeitet, damit über Identität gesprochen werden kann.»
Ein Gefühl der Enge.Die meisten Eltern reagierten zwar positiv, doch Neuenschwander ging es danach nicht gut. Der Druck, sein Geschlechtsempfinden ständig thematisieren zu müssen, machte ihm zu schaffen. Bald brach er das Praktikum ab. Nun wird er nur die Ausbildung zum Fachlehrer Mathematik beenden. Anschliessend will er Kindererzieher lernen. An einem Ort, wo er schon einmal jobbte. Dort darf er frei entscheiden, ob und wie viel er über seine Geschlechtsidentität preisgeben will.
Lukas Neuenschwander wurde in einem Körper mit den Merkmalen eines Mädchens geboren und sozialisiert. Früh fühlte er sich eingeengt: «Wie ich mich wahrnehme, stimmt eher mit den Vorstellungen von Männlichkeit überein, obwohl ich mich in Männergruppen nicht gänzlich zugehörig fühle.» Geschlecht sei ein breites Spektrum zwischen der Kategorie «Frau» und «Mann». Warum die Kategorisierung schon beginne, wenn ein Kind noch im Bauch der Mutter stecke, versteht er nicht. «Oft ist das Geschlecht im Leben irrelevant.» Jedes Formular fragt trotzdem danach.
Der Kompromiss. Als ein Bekannter ihn vor vier Jahren an den Trans-Stammtisch in Bern mitnahm, fühlte er sich zum ersten Mal zugehörig. Bis dahin war nur eine Freundin eingeweiht, seine Eltern informierte er erst später. Sie akzeptierten diesen Schritt. Die neue Zugehörigkeit brachte den Prozess seiner Identitätsfindung ins Rollen. «Ich lernte, dass sich Geschlecht nicht in zwei Kategorien einteilen lässt und ich mich nicht ganz in einer der beiden finden kann.»
Nun entschloss sich Neuenschwander zu einem Kompromiss zwischen seinem Empfinden und dem gesellschaftlichen Bedürfnis, Menschen einem Geschlecht zuzuordnen. Seit Februar nimmt er Hormone, seine Stimme, aufgrund der Fremde ihn als Frau ansprachen, ist tiefer geworden. Heute ist ihm wohler, da er weniger Verwirrung stiftet. Er wünscht sich, dass die Gesellschaft das breite Spektrum zwischen Frau und Mann akzeptiert. «Doch in einem ersten Schritt muss die Stigmatisierung von Transmenschen ein Ende finden.»