Schwerpunkt 26. Oktober 2022, von Nadja Ehrbar, Felix Reich

«Glauben fordert offenbar unzeitgemässe Verbindlichkeit»

Wer hat Angst vor Religion?

Der Philosoph Michael Bongardt kann Religionskritik nachvollziehen, etwa wegen dem Radikalisierungspotenzial. Doch mit der Religion drohe eine wichtige Frage zu verschwinden.

Wenn Sie auf einer Gartenparty sagen, Sie seien religiös: Lassen da die Leute vor Schreck ihr Glas fallen? Oder zucken sie zusammen?

Michael Bongardt: Ich mache schon die Erfahrung, dass viele Menschen skeptisch reagieren, wenn ich mich positiv zum Christentum äussere. Sie fragen sich, wie man sich noch ernsthaft damit beschäftigen kann.

Und wie reagieren Sie?

Wenn das Desinteresse meines Gegenübers nicht überwiegt und es zu einem Gespräch kommt, versuche ich herauszufinden, welche Beweggründe mein Gesprächspartner für seine Religionskritik hat. Viele meiner Studierenden halten Religiosität für etwas irrwitzig Irrationales. Darauf kann ich philosophisch reagieren und das Verhältnis von Ra­tionalität und Subjektivität bei jeder Weltanschauung erklären.

Wie sind die Reaktionen im Kol­legium an der philosophischen Fakul­tät? Sie sind ja auch Theologe.

An der Universität bin ich in einer besonderen Situation, weil ich kein Theologieprofessor mehr bin. Nach meinem Ausscheiden aus dem Pries­terdienst wurde ich von meinem the­ologischen Lehrstuhl entfernt. Seitdem fühle ich mich als Philosophieprofessor sehr wohl.

Konnten Sie den Theologen wirklich einfach abstreifen?

Ich weiss Philosophie und Theologie zu trennen. Es handelt sich hierbei um unterschiedliche Arten des Fragens. Mein Theo­logesein werde ich aber natürlich nicht los. Zuweilen begegne ich dem Verdacht, ein Theologe könne grund­sätzlich keine Philosophie treiben.

Michael Bongardt, 63

An der Universität Siegen ist Michael Bongardt Professor für Philosophie bzw. Anthropologie, Kultur- und Sozialphilosophie. Er studierte katholische Theologie in Bonn und München, 1985 wurde er zum Priester geweiht. An der Freien Universität Berlin war er Pro­fessor für Systematische Theologie. 2003 legte er sein Priesteramt nieder und lehrte in Berlin Religionsphi­losophie und Vergleichende Ethik.

Verteidigen Sie die Religion in Diskussionen manchmal?

Als Apologet der Religion sehe ich mich nicht. Wer auf Angriff mit Ver­­teidigung reagiert, begibt sich in ein Pingpong-Spiel der Argumente. Das langweilt mich. Ein Dialog ist nur möglich, wenn ich die Kritik ernst nehme. Oftmals teile ich sie ja. Dann etwa, wenn es um die Machtfrage oder Missbrauch in der katholischen Kir­che geht. Allerdings plädiere ich mit Nachdruck dafür, dass reflektierte und ernsthafte religiöse Anschauungen von Menschen nicht nur zu tolerieren, sondern auch anzuerkennen sind.

Somit verstehen Sie sich also als Apo­loget der Religionsfreiheit?

Unbedingt. Nicht nur der Freiheit von Religion, sondern auch der Frei­heit zur Religion. Wie es für Areligiosität und Atheismus gute Gründe gibt, gibt es das auch für religiöse Überzeugungen. Religiös zu sein, ist folglich legitim. Dafür trete ich entschieden ein. Damit werde ich freilich zum Kritiker all jener Religionen und Gläubigen, die anderen Glaubensüberzeugungen die Legitimität absprechen, weil sie nur den eigenen Glauben für wahr halten.

In einer säkularisierten Gesellschaft ist Religion Privatsache. Ist das gut so?

Die biblischen Religionen sehen die persönliche Beziehung zu Gott als Kern der Religiosität. Insofern ist sie eine sehr private, geradezu intime Angelegenheit. 

Dennoch haben viele Christen den Anspruch, aufgrund ihrer Glau­bensüberzeugung auf die Gesellschaft einzuwirken, um sie zum Gu­ten zu verändern. Gerade die Landeskirchen begründen ihr sozialpolitisches Engagement damit.

Diese Haltung, welche die Kirchen heute vertreten, würde ich natürlich unterstützen. Allerdings ist sie nicht selbstverständlich. Lange Zeit hat sich die Kirche vor allem für das Seelenheil ihrer Gläubigen verantwortlich gefühlt. Heute hat in den westlichen Kirchen die Vorstellung, dass Glau­bensgemeinschaften ge­sell­schaftsverändernd wirken sollen, eine gros­se Bedeutung. 

Wenn ich mit anderen Menschen gut umgehe und sie etwas von meiner Spiritualität wissen wollen, erzähle ich ihnen davon. Wenn sie nichts hören wollen, ist es auch gut.

Und welche Haltung ist aufgrund der biblischen Texte legitim?

Die Frage ist kaum zu beantworten. In der Zeit, in der die biblischen Tex­te entstanden, gab es keine Staaten, wie wir sie heute kennen. Zudem ist einerseits das Jesuswort überliefert: «So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist» (Mt 22,21). Andererseits schreibt Apostel Paulus: «Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott gegeben wäre» (Röm 13,1). Sie können es sich aussuchen.

Welche Wahl haben Sie getroffen?

Mit Blick auf die Frage der Verkündigung und die Verantwortung, die es als Christ zu übernehmen gilt, ist für mich ein alter Kirchenvatersatz eine wichtige Richtschnur: «Rede nie ungefragt von deinem Glauben, aber lebe so, dass du nach deinem Glauben gefragt wirst.» Ich denke, das ist der menschlichste und freiheitsoffenste Weg, andere Menschen von etwas zu überzeugen. Wenn ich mit anderen Menschen gut umgehe und sie etwas von meiner Spiritualität wissen wollen, erzähle ich ihnen davon. Wenn sie nichts hören wollen, ist es auch gut.

Wenn das Christentum aus dem Privaten in den politischen Diskurs zurückkehrt, dann von rechts: Meloni in Italien, Bolsonaro in Brasilien, Trump in den USA. Warum?

Ich beobachte die Entwicklung mit einigem Schrecken. Religion hat im­mer das Potenzial, Menschen zu radikalisieren. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Die Befreiungstheologie spielt in Südamerika im Kampf gegen Armut und Ausbeutung eine wichtige Rolle. In diesen Ländern hat der Schulterschluss zwischen Staats­macht und Kirche über Jahrhunderte gehalten. Dass die Menschen die Kraft für den Widerstand dagegen ausgerechnet in der Bibel und in der Theologie fanden, halte ich schon für sehr beachtlich.

Ich glaube, wenn wir so ins Gespräch kommen können, dass wir die Frage, worum es uns im Leben letztlich geht, ernsthaft beantworten, ist das erreicht, was ein Mensch überhaupt erreichen kann.

Gibt es ein Mittel gegen das Unbehagen, das Religion auslösen kann?

Wenn Menschen mir von ihren Vor­behalten gegenüber der Religion erzählen, nehme ich sie ernst. Mich interessiert, welche negativen Er­fah­­rungen sie gemacht haben, welche Bilder sie im Kopf haben. Und vielleicht mögen sie mir danach zuhören, wenn ich davon erzähle, warum mir der Glaube wichtig ist. Dieses offene Gespräch erachte ich als entscheidend. Religion kann übrigens auch ganz ohne negative Vorurteile furchteinflössend sein.

Inwiefern?

Die Angst vor der Religion lässt sich als Furcht davor verstehen, dass Religion etwas ist, aufgrund dessen ich mein Leben radikal verändern müsste, wenn ich mich wirklich darauf einlassen würde.

Das ist quasi eine innere Wendung der Angst vor der Religion?

Genau. Heute engagieren wir uns ja lieber in zeitlich beschränkten Projekten. Sich ganz auf den Glauben einzulassen, fordert eine offenbar unzeitgemässe Verbindlichkeit.

Vielen Menschen macht Religion längst keine Angst mehr, sie ist ihnen schlicht egal.

Und diese Gleichgültigkeit ist aus anthropologischer Sicht ein Verlust. Martin Luther schrieb: «Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.» Die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Religion führt dazu, dass Menschen sich die Frage, woran sie ihr Herz hängen, was ihnen wirklich wichtig ist, nie mehr ernsthaft stellen. Ich beobachte, dass die Zahl der Menschen, die sich fragen, woran sie sich binden wollen, wer sie wirklich sind, kleiner wird. Das heisst nicht, dass sie sich nicht binden – sondern dass ihnen nie klar wird, dass und woran sie sich binden. Das bleibt nicht ohne Folgen.

Die Frage, woran das Herz hängt, ist religiös, ohne dass sie nach der Religion fragt?

Ja. Ich glaube, wenn wir so ins Gespräch kommen können, dass wir die Frage, worum es uns im Leben letztlich geht, ernsthaft beantworten, ist das erreicht, was ein Mensch überhaupt erreichen kann. Und die Möglichkeiten, die sich eröffnen, wenn wir dabei auch die christliche Tradition ins Spiel bringen, sollten wir nicht unterschätzen.