«Behinderung ist ein Aspekt menschlicher Vielfalt»

Inklusion

Markus Schefer fordert von der Bevölkerung ein Umdenken. Dazu gehört die Ab­schaf­fung von Institutionen für Menschen mit Behinderungen ebenso wie die politische Partizipation.

Was ist aus Ihrer Sicht zentral für Menschen mit Behinderung?

Markus Schefer: Dass sie umfassend und gleichberechtigt ein Teil der Gesellschaft sein können. Das deckt sich mit den Forderungen der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Was bedeutet diese umfassende Teilhabe konkret?

Dass Menschen mit Behinderung so teilhaben können wie alle anderen auch. Niemand soll von gewissen Gebieten und Aktivitäten ausgeschlossen sein. Und Menschen mit Behinderungen sollen sich nicht besonders rechtfertigen müssen. Letztlich bedeutet dies, dass die Gesellschaft die Behinderung nicht mehr pathologisiert und ausschliesst, sondern als Aspekt der menschlichen Vielfalt wahrnimmt und sich entsprechend darauf ausrichtet.

Wie soll das in der Praxis gehen?

Rollstuhlfahrende werden behindert, weil sie beim Bau des Umfeldes nicht mitgedacht waren. Wie wir die Gesellschaft und das Umfeld gestalten, ist an einer bestimmten Vor­stellung ausgerichtet. Das Gleiche bei Menschen mit psychosozialen oder intellektuellen Behinderungen. Es geht darum, wie wir sie als Gesellschaft mit einschliessen, wie wir uns in der Arbeitswelt einrichten. Wir müssen die Vorstellung, wer dazugehört, erweitern und uns entsprechend anpassen. Solche gesellschaftlichen Anpassungen hat man oft gemacht, unter anderem mit Bezug auf die Frauen.

Aber bei der Arbeit etwa muss doch die Leistung noch stimmen.

Es ist nicht so, dass jemand nur we­gen einer Behinderung weniger Leis­tung erbringt. In der Literatur wird das als «Ableism» bezeichnet: die Vorstellung, Menschen mit Behinderungen seien weniger leistungsfähig. Sie können gewisse Arbeiten nicht machen, dafür jedoch ande­re, so wie Menschen ohne Behinderung. Schliesslich gilt für alle: Wo sind die individuellen Stärken?

Gemäss Bundesamt für Statistik haben schweizweit rund 1,8 Millionen Menschen eine Behinderung, eine halbe Million eine schwere Behinderung. Es fehlt ein gesellschaftliches Verständnis von der Grösse der Fragestellung.

Freiwillig scheint Inklusion nicht umgesetzt zu werden.

Bisher ist tatsächlich sehr wenig gelaufen. Deshalb ist die Behindertenrechtskonvention der UNO wichtig für die Schweiz. Sie stellt die einzige rechtliche Grundlage dar, die umfassend darauf zielt, eine inklusive Gesellschaft zu erreichen. Sie zeigt detailliert, wo welche Massnahmen notwendig sind. Und die externen periodischen Überprüfungen können wichtige Impulse geben – wie im kürzlich erschienen Bericht des UNO-Ausschusses.

Wie verbindlich ist dieser Bericht?

Es sind zwar nur Empfehlungen, aber falls der Bundesrat Teile davon nicht übernehmen will, muss er es der UNO gegenüber rechtfertigen. Abwehrhaltungen sind aber fehl am Platz. Wichtig ist vor allem, dass auch Behindertenverbände den Bericht zum Anlass nehmen, Öffentlichkeitsarbeit und Bewusstseinsbildung zu fördern und politische Vorstösse zu lancieren.

Das klingt alles, als wäre noch viel Sensibilisierung nötig.

Ja, sehr! Eine gesellschaftliche Veränderung erreicht man nur durch Überzeugen und Zeigen, worum es geht. Es ist ja kaum böser Wille dahinter, man ist sich bloss der Probleme nicht bewusst. Gemäss Bundesamt für Statistik haben schweizweit rund 1,8 Millionen Menschen eine Behinderung, eine halbe Million eine schwere Behinderung. Es fehlt ein gesellschaftliches Verständnis von der Grösse der Fragestellung.

Die UNO empfiehlt der Schweiz unter anderem ein Assistenzmodell anstelle von Institutionen. Wie könnte dieses Modell aussehen?

Inklusive Schulen und Arbeitsplätze sowie die Möglichkeit, ein selbstständiges, unabhängiges Leben zu ermöglichen, sind zentrale Elemente. Manche Länder wie Neuseeland haben bereits vor 20 Jahren sämt­liche Institutionen für Menschen mit Behinderungen abgeschafft. Israel führt ein starkes Deinstitutionalisierungsprogramm. Solche Modelle müssen wir anschauen, statt gleich zu sagen, das gehe nicht.

​Markus Schefer, 57

​Markus Schefer, 57

Der Appenzeller Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel ist Mitglied des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Er ist ein führender Wissenschaftler zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen und hat umfassende Erfahrungen in der Ausarbeitung von Behindertengleichstellungsgesetzen. 

Zurzeit befindet er sich im Wahlkampf für eine weitere Periode im UNO-Ausschuss. Auf seiner Website gibt es dazu weitere Informationen – unter anderem auch in der für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung besser verständlichen Leichten Sprache und in Gebärdensprache:

Zur Website von Markus Schefer.

Und die Beistandschaft sei aufzuheben, fordert die UNO. Warum?

Die Beistandschaft an sich ist nicht das Problem. Aber sie dürfte sicher nicht vertretend für die Betroffenen sprechen, auch nicht gegen ihren klar geäusserten Willen. Wir haben aber heute den rechtlichen Mechanismus, dass die Person, die als urteilsunfähig eingeschätzt wird, gar keinen rechtlich verbindlichen Willen äussern kann. Das darf nicht sein. Die Änderung wäre, die Betroffenen in ihrer Entscheidungsfindung zu unterstützen. Die heutige Beistandschaft birgt zudem das Problem, dass häufig Familienmitglieder Beistände sind. Es wäre also schwierig für die Betroffenen im Falle eines Missbrauchs, rechtlich dagegen vorzugehen.

Warum soll jemand abstimmen, obwohl er unfähig ist, zu verstehen, worum es in einer Vorlage geht?

Grundsätzlich können alle volljährigen Schweizer Bürgerinnen und Bürger abstimmen, unabhängig davon, ob sie eine Vorlage verstehen oder nicht. Doch wer unter umfassender Beistandschaft steht, darf nicht wählen und abstimmen. Weil man die Vorstellung hat, sie könnten es nicht. Das mag manchmal der Fall sein, manchmal nicht. Wie bei allen Menschen. Immerhin hat der Kanton Genf diese Schranke abgeschafft, in anderen Kantonen gibt es Vorstösse. Auf Bundesebene war eine erste Postulatsantwort positiv.

Warum ist denn die politische Partizipation für Behinderte wichtig?

Sie ist der Kern dessen, was wir heute als Bürgerrecht definieren. Und es ist das, was uns zu vollen Mitgliedern der Gesellschaft macht, ein elementares Menschenrecht, eine Frage der Menschenwürde. Versteht man Demokratie als eine Form, in der kein Mensch es besser weiss als andere, was richtig ist, dann heisst das, dass jeder ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sein muss.

In welchen Ländern läuft es besser?

Es gibt einige, wo die Bewusstseinsbildung weiter fortgeschritten ist als in der Schweiz. Meistens geht das einher mit der Aktivität der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Bei der Überprüfung von Australien kamen 19 Vertreterinnen und Vertreter von NGOs nach Genf – sie sind um die halbe Welt geflogen; allein das zeigt den hohen Stellenwert des Themas. Neuseeland hat ebenfalls enorm aktive zivilgesellschaftliche Organisationen. Das reflektiert einen anderen Stand des Bewusstseins mit Selbstverständlichkeiten, die bei uns bisher nicht vorhanden sind.

Wir müssen uns bewusst sein, dass es eine grosse Anforderung ist, inklusive Schulen zu gestalten, wenn man keine Erfahrung hat damit.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Bei einem Fall in Schweden bewarb sich ein Gehörloser an einer Universität als Professor für öffentliches Recht. Die Berufungskommission setzte ihn auf den ersten Platz. In der Schweiz wären wir schon gar nicht in der Lage, solche Kandidaten zu portieren für einen solchen Posten. Bereits die Ausbildung ist bei uns so gestaltet, dass Gehörlose viel wenigerdie Möglichkeit haben, eine akademische Karriere zu machen. Und das beginnt schon früh.

Sie tönen damit Inklusion in den Schulen an – es gibt Lehrpersonen, die sagen, das bringe niemandem was.

Das wird jetzt gerade in Basel diskutiert. Der Kanton machte ziemlich vorwärts, und jetzt kommen Einwände von der Lehrerschaft: Das gehe nicht. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass es eine grosse Anforderung ist, inklusive Schulen zu gestalten, wenn man keine Erfahrung hat damit. Das gelingt kaum auf Anhieb. Und Probleme darf man auch nicht kleinreden und der Lehrerschaft keinen schlechten Willen unterstellen. Besser wäre es zu sagen: Ok, so geht es offenbar nicht. Aber wie geht es besser? Man muss in diese Richtung forschen und verschiedene Möglichkeiten ausprobieren.

Also trotzdem daran festhalten, Kinder mit Behinderungen in Regelklassen zu integrieren?

1954 hat der oberste amerikanische Gerichtshof festgehalten, dass rassengetrennte Schulen verfassungswidrig sind – weil es unzulässig ist, Kinder zu segregieren, sie abzusondern. Eine solche Erfahrung prägt das ganze Leben. Das ist bei Kindern mit Behinderungen nicht anders. Segregation ist auch hier das Gegenteil von Inklusion. Wenn wir es ernst meinen damit, dass Menschen mit Behinderungen vollwertiger der Gesellschaft sein sollen, dann brauchen wir inklusive Schulen. Natürlich braucht das auch spezielle Vorbereitungen. Doch wenn wir bei der Schule schon aufgeben, dann sehe ich nicht, wie es im späteren Leben funktionieren sollte.

Da hört man schon die Rufe: Personalmangel!

Das kann man lösen. Man müsste auch die Ausbildung von Lehrkräften entsprechend gestalten. Genauso wie man es anpassen kann, wenn man zu wenig Mediziner hat. Es gibt nicht eine vorbestimmte Anzahl von Fachleuten für bestimmte Aufgaben.

Die Rechte von Menschen mit Behinderungen – öffentliche Tagung am 28. Juni 2022

Markus Schefer und sein Team organisieren am 28. Juni 2022 erneut eine Tagung zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen. Der ganztägige Anlass wird in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und dem Dachverband Inclusion Handicap veranstaltet. Die Tagung in Basel wird sich mit der Rolle der Behindertenorganisationen in Recht und Politik und den Empfehlungen des BRK-Ausschusses an die Schweiz und deren Umsetzung befassen. Sie richtet sich an alle mit der Umsetzung des Behindertengleichstellungsrechts Betrauten auf Bundes-, kantonaler und kommunaler Ebene, an Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen und an alle Interessierten.

Zur Website der Tagung bei der juristischen Fakultät der Uni Basel.

Braucht es dafür nicht eine Systemänderung?

Es gibt schon längst Schulmodelle, die ein breiteres Spektrum von Schülerinnen und Schülern aufnehmen. Aber es bräuchte in der Volksschule relativ tief greifende Anpassungen. Doch das ist selbstverständlich: Das aktuelle System, in dem viele Menschen nicht teilnehmen können, wurde über eine sehr lange Zeit hinweg entwickelt. Darum ist die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention eine Frage von Jahrzehnten und nicht von Jahren. Aber das heisst nicht, dass man langsam machen soll.

Gemäss Ihrer Forderung einer inklusiven Gesellschaft machen spezielle Pfarrämter für Gehörlose und Behinderte, wie es sie in einzelnen Kantonen gibt, gar keinen Sinn?

Ja, dieser Ansatz ist im Grundsatz falsch. Die Idee, dass Menschen aufgrund eines spezifischen Charakteristikums ein separater Platz zugewiesen wird, ist das Gegenteil von Inklusion, das ist Segregation. Und diese ist ein grosses Übel. So wohlmeinend der Ansatz auch sei.

Warum tun wir uns so schwer mit der Inklusion, wo doch zahlreiche biblische Texte die Grundlage für inklusives Verhalten liefern?

Weil unsere Gesellschaft seit jeher auf Menschen ausgerichtet ist, die keine Behinderung haben. Und weil wir wohl die praktische Wirkungskraft der Bibel überschätzen.

Wie kommt es, dass das Behindertenrecht ihr Fachgebiet ist?

Das ist eine interessante Frage – die Sie mir wohl nicht gestellt hätten, wenn ich eine Behinderung hätte. Rund 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind in ihrem täglichen Leben enormen Einschränkungen unterworfen. Die Rechtswissenschaft war in diesem Bereich lange Zeit fast untätig. Dabei sind es Fragen, die die Gesamtgesellschaft etwas angehen und für deren Lösungen sich alle einsetzen müssen. Denn letztlich geht es um die Gestaltung einer «decent society» einer «anständigen Gesellschaft, in der Menschen anerkannt und nicht durch Institutionen gedemütigt werden», wie es der Philosoph Avishai Margalit festhält. Der Umgang mit Menschen auf Basis ihrer Gleichheit und ihrer gleichen Massgeblichkeit ist eine elementare Grundlage für unser Zusammenleben. Diese Grundlage besteht heute für Menschen mit Behinderung nicht.