Sie sind die erste Imamin in Deutschland. Wie sieht Ihr Gottesbild aus?
Ich bin nicht die erste Imamin. Ich bin lediglich die erste Frau, die eine liberale Moschee eröffnet hat. Die anderen Imaminnen leiten nur Frauen und Kinder, ich leite eine gemischte Gemeinde. Mein Gottesbild ist stark geprägt von meiner Nahtoderfahrung und dem, was mir meine Eltern über den Islam vermittelt haben. Gott ist für mich die Übermacht, die grenzenlos ist, was sich in den 99 Namen Gottes und dem einen Namen, den niemand kennt, widerspiegelt. Gott hat Eigenschaften wie Barmherzigkeit, Liebe und Stärke. So ist mein Gottesbild sehr universell. Als ich angeschossen wurde, sah ich mich auf dem Boden liegen und hatte eine Art spirituelles Gespräch darüber, ob ich in dieses Leben zurückkehren oder ins Licht gehen wollte. Ich war in diesem Licht und in einem absoluten Glücksgefühl. Für mich hat dieses Gespräch mit Gott stattgefunden, obwohl ich Schwierigkeiten habe, seinen Namen auszusprechen.
Die Ehrfurcht vor dem Namen Gottes kennen Juden, Christen und Muslime. Auch sonst haben die drei abrahamitischen Religionen viele Gemeinsamkeiten. Dennoch bekämpfen sie sich seit Jahrtausenden. Was braucht es, um sie zusammenzubringen?
Mehr Begegnungen und viel mehr Austausch über das, was uns verbindet. Deshalb pilgere ich interreligiös auf einem christlichen Weg, der längst nicht mehr christlich ist. Wir haben so viele gemeinsame Grundlagen, wir teilen die Propheten, Adam und Eva oder Hagar in der Wüste, auch wenn wir die Geschichten etwas anders erzählen. Es ist absurd, dass sich die drei Religionen bekämpfen.
Sie hatten eine schwierige Jugend und haben mit 17 Jahren Ihre Familie verlassen. Inzwischen haben Sie sich wieder mit Ihrer Familie versöhnt. Was ist passiert?
Vergebung ist ein grosses Thema. Ich wünsche mir Frieden und Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben. Ich will nicht zu viel Last und Kummer mit mir herumtragen. Ich habe mit meinen Eltern gesprochen und gelernt, ihnen direkt zu sagen, was mich verletzt hat. Meine Eltern konnten auch sagen, Kind, weisst du, wie es uns geht. Mein Vater konnte weinend in die Kamera sagen, dass es ihm leid tut, was er seiner Tochter angetan hat. Und ich habe ihm gedankt und gesagt, Papa, ich kann dich verstehen, so bist du aufgewachsen, so bist du als Mann erzogen worden.
Sie haben einander vergeben?
Ja. Ich habe gelernt, mich nicht an den schmerzlichen Momenten der Vergangenheit abzuarbeiten, sondern an den glücklichen. Lange war mein Vater mein grösster Fan, er hat die türkischen Zeitungsartikel, in denen ich mich über Zwangsheirat und Ehrenmorde äusserte gesammelt. Er hat gesehen, dass ich keine schlechte Frau, sondern ein guter Mensch geworden bin und dass er seinen Anteil daran hat. Das habe ich ihm auch zurückgespiegelt. Leider ist er 2014 gestorben, bevor ich die Moschee eröffnet habe.
Ist die Liebe stärker als aller Fundamentalismus?
Ja, die Liebe ist viel stärker. So naiv es klingt, ich würde Menschen gerne nur mit Liebe überschütten. Wenn wir schon einen Kampfbegriff benutzen, dann wäre es jenen, die Menschen mit Liebe zu erschlagen. Nur so können wir letztlich gewinnen.