Schwerpunkt 20. Juli 2021, von Christian Kaiser

Der Garten Eden liegt am Rhein

Jakobsweg

Unterwegs auf dem Jakobsweg mit einer Pilgergruppe: Der Weg ist nicht das Ziel, aber er gibt die Erlebnisse vor. Die gartenartigen Landschaften tragen paradiesische Züge.

Gottes Garten liegt im Kanton Zürich. Irgendwo zwischen Rheinfall und Pfäffikon. Wenn man Kathrin Reist glauben will zumindest. Die Pfarrerin aus Murten hat ihrer Gemeinde ein verlockendes Angebot gemacht: fünf Tage pilgern auf dem Zürcher Jakobsweg, «unterwegs im Garten Gottes».

Schaffhausen statt Frankreich

Eigentlich wollte Reist ja nach Frankreich und wie jedes Jahr mit ihrer Gemeinde eine Woche lang ein Stück weiter Richtung Santiago de Compostela ziehen. Diesmal von Conques aus durch Okzitanien. Die Pandemie machte ihr wie so vielen einen Strich durch die Rechnung. Aber pilgern in der Schweiz, das durfte man wieder, und so fanden sich die Murtner Pilgerinnen und Pilger an einem schönen Frühlingsmontagmorgen in Schaffhausen ein. Als erste Etappe der Gottesgartentour wartete der Klostergarten des Klosters Allerheiligen.

Als das Pilgergrüppchen von der Pfarrerin im Heilkräutergarten den ersten Impuls bekommt, hat man bereits im Chor von Allerheiligen «Bonum est confidere» gesungen und ist zu zweit zum Kennenlernen im Kreuzgang gewandelt. Der Abt Walahfrid von Strabo hatte schon im 9. Jahrhundert über das Gärtnern geschrieben und darüber, wie er seine Pflänzchen hegt und pflegt.

Die Kraft des Wassers

Die Pfarrerin zitiert ihn: «Die Sorge, dass die fasrig-zarten Wurzeln nicht erschlaffen vor Durst, lässt mich Ströme erfrischenden Wassers schleppen in vielfassenden Krügen und nur tropfenweise ausgiessen aus den eigenen Händen – damit nicht in heftigem Schwall allzu reichliche Fluten verschwemmen die keimenden Saaten.»

Und weil das Wasser ein ständiger Begleiter ist bei diesem Gang durch den Garten Gottes, den Rhein entlang und über die Töss bis an den Pfäffikersee, dürfen später alle einen Bibelspruch zum Thema Wasser ziehen. Von der Seele, die wie ein Hirsch nach frischem Wasser lechzt beispielsweise. «Der Rhein zeigt auf dieser Strecke seine Stärke, seine Kraft ist sehr eindrücklich», sagt Kathrin Reist.

Man könne die zerstörerische Kraft des Wassers spüren, aber auch die Momente der Dürre und das Durchströmtwerden. «Vielleicht wird man selber zum Garten, der bewässert wird.» Am Rheinfall sind die Pilgerinnen und Pilger aufgefordert, sich mit den Bibelzitaten zu beschäftigen, die sie ausgewählt haben. Und genauso funktioniert Pilgern: Der Weg gibt die Themen vor, er bestimmt die Geschichten, auch die biblischen, die den Menschen etwas zu sagen haben.

Wachsen und Vergehen

Die Pfarrerin aus Murten hat im letzten Jahr bei der reformierten Zürcher Landeskirche die Ausbildung zur Pilgerbegleiterin absolviert und ging dabei zum ersten Mal auf dem Zürcher Weg. Das Motiv des Gartens ergab sich dabei wie von selbst: «Die Landschaft ist so lieblich, immer wieder kommt man an verschiedenen Gärten vorbei.»

In Murten hat sie selber einen grossen, wilden Garten, zieht aber auch eigenes Gemüse. Einige Pflanzen kämen von selber, andere gepflanzte verschwänden wieder, um einige müsse man sich immer wieder kümmern. «Das sind Lebensthemen: das Zusammenspiel von Wachsen, Werden und Vergehen.»

Manchmal sind es auch die Kirchen am Wegrand, die den Takt vorgeben und die Gedankenanstösse liefern. Wie beim Pilgern üblich startet der zweite Tag dort, wo der erste geendet hat. Die Gruppe verweilt bei der Klosterkirche Rheinau, einem barocken Bauwerk von nationaler Bedeutung.

Ein Festjahr für Pilgernde

Das Pilgerzentrum St. Jakob in Zürich wurde vor 25 Jahren gegründet. Erster Pilgerpfarrer war Theo Bächtold. Es war das erste reformierte Kompetenzzentrum fürs Pilgern im deutschsprachigen Raum. Das Zentrum berät Pilgerinnen und Pilger, die das Netz der Jakobswege begehen wollen, und organisiert eigene Touren. Kirchgemeinden werden vom Zentrum beim Aufbau eigener Angebote unterstützt.  

Um das Pilgern als Form der Spiritualität zu propagieren, hat die reformierte Landeskirche am St. Jakob ein Pilgerpfarramt eingerichtet. Aktueller Pilgerpfarrer ist Michael Schaar, der sich auch in der Ausbildung von Pilgerbegleiterinnen und -begleitern engagiert. Am Festtag des Jakobus, spanisch Santiago, am 25. Juli, feiern Pilgerinnen und Pilger in ganz Europa ihren Schutzpatron. Auch in der Citykirche Offener St. Jakob wird der Jakobstag jeweils speziell gefeiert.  

Immer wenn der Jakobstag am 25. Juli auf einen Sonntag fällt, spricht man von einem «Heiligen Jahr». Die katho-lische Kirche verspricht in einem solchen Jahr traditionell die Vergebung aller Sünden. Wegen der Pandemie wurde das Heilige Jahr 2021 erstmals für zwei Jahre ausgerufen.

Die Sakristanin zeigt bei einer verblüffenden Führung die Schätze des Klosters, inklusive der Reliquien sowie der beiden ältesten Orgeln im Kanton. Die eine kann sogar Vogelgesang und Zimbelspiel.

Der Barock wollte mit seinen Kirchen den Himmel auf die Erde holen. Die Pilgerinnen und Pilger dürfen in der Schatzkammer einen Blick auf das prunkvolle Hochzeitskleid einer Kaiserinnentochter werfen und auf den Turm zu den Wahrzeichen von Rheinau hinaufsteigen, den beiden goldenen Engeln auf den gotischen Türmen. Die zwei Meter langen Fanfaren, welche die Engel blasen, sollen bei starkem Wind tatsächlich ertönen. Ein Orgelbauer hat sie noch nicht lange getestet, indem er sie im fahrenden Auto aus dem Fenster hielt.

Konfessionelle Steckdosen

Pilgern bildet. Unterwegs erfährt die Gruppe zum Beispiel, dass die Rheinauer Bergkirche seit 1608 paritätisch ist und darum auch katholische und reformierte Steckdosen hat – für die separate Abrechnung.

Oder dass die Rheinauer Katholiken über die Grenze mussten, um sich eine Frau zu suchen, weil die Heirat mit einer Reformierten nicht infrage kam, gemeinsame Kirche hin oder her. Oder dass das Rheinauer Wappen einen gebogenen Lachs trägt, weil die fettesten Fische dem Kloster abgeliefert werden mussten und dort selbst die grössten Pfannen zu klein waren.

Ein kapitaler Hecht

Die Fischgeschichten vom Rhein scheinen den Seeländerinnen nah zu sein. Man lacht ausgelassen, eine Pilgerin zeigt auf ihrem Handy das Bild ihres Mannes, der am Morgen auf dem Murtensee zum Fischen ausgefahren ist. Später am Tag wird sie auch den kapitalen Hecht präsentieren, den er gefangen hat.

In der Rheinauer Spitzkirche bittet das Pilgergrüppchen im Kanon um Schalom und danach auch betend um Frieden zwischen Himmel und Erde. Und tatsächlich stellt sich beim Aufbruch eine sehr friedliche Stimmung ein. Unter den Birken stehend, zitiert die Pfarrerin spontan und auswendig die Engadiner Dichterin Luisa Famos: «In meinem Herzen / steht eine Birke / treibt Blüten / tausend singende Vögel / in ihren Zweigen».

Wieder am Rhein, auf dem Uferweg Richtung Ellikon, kommt ein Fischer auf dem Velo entgegen, die Angelrute auf den Gepäckträger geklemmt, das Fangnetz in der Satteltasche. «So wenig Wasser gab es noch nie», sagt er damals noch vor dem grossen Juniregen. «Alles nur Schmelzwasser, wir leben in einer Trockenzeit.» Und, ja, doch, Fische gebe es hier tonnenweise, man brauche dafür allerdings eine Angelkarte. Am Pfäffikersee, da gebe es noch Angelplätze, wo man ohne spezielle Bewilligung vom Ufer aus fischen dürfe, mit dem 9-Uhr-Pass komme man ganz gut dorthin. Die Pilgernden aber wollen zu Fuss nach Pfäffikon, der Fischer staunt.

Eden ist überall

Nun führt der Weg wirklich durch unzählige Gartenarten. Den glitzernden Fluss entlang unter ausladenden Buchen am Ufer zwischen Rheinfall und Dachsen; durch die Trockenwiesen auf dem alten Keltenwall bei Altenburg vor dem Abstieg nach Rheinau; an den Steilufern über dem Rhein, in lichten, sandigen Eichenwäldern mit Orchideen und Graslilien vor Ellikon; in den wilden, sumpfigen Thurauen.

In einem grossen Garten wähnt sich die Pilgergruppe auch beim Aufstieg in Richtung Irchel nach Flaach, wo der Weg durch die bunten Äcker führt, wo Mohnblumen, Kornblumen, Kamillen, Ackerwinden und Wegwarten blühen; in den Weinbergen bei Neftenbach und durch die Pünten, wie die Arbeiterschrebergärtchen in Winterthur heissen; oder in dem urigen Laubwald in der Tössschlucht vor dem Aufstieg zur Kyburg. Besonders im Frühling, im April oder im Mai, ist dieser Weg ein einziges Fragezeichen: «Was blüht denn da?» Der Gang der Besucherinnen und Besucher aus Murten führt durch eine «Frühlingslandschaft, die das Leben feiert», wie Reist sagt: «Man kann über jede Hecke staunen, jeder Busch zeigt ein anderes Grün.» Pilgern ist vor allem eine achtsame Gehmeditation durch die Natur.

Der neue Freund

Für einmal ist Corona weit weg. Alle zeigen sich dankbar, unbeschwert durchs Land streifen zu können. In der Kapelle der Kyburg sprechen die zehn Pilgerinnen und Pilger aus dem Seeland von einer grossartigen Entdeckung, die sie hier im Kanton Zürich machen durften.

Der Rhein hat es ihnen am meisten angetan. Die Breite des Flusses, seine Weite, die Kraft und Ruhe, die er ausströmt. Es klingt fast, als sprächen sie von einem neuen Freund, den sie gewonnen haben. Ein Zitat von Franz Hohler hallt nach: «Wanderer, du gohsch nie meh über de Stäg, Wanderer, es git kei Wäg, nume Bäch, wo nie blibed stoh.»

Zu Beginn des letzten Wegstücks schlägt Pfarrerin Kathrin Reist im Kräutergarten bei der Kyburg noch einmal den grossen Bogen zum Anfang: Was ist gewachsen in den letzten Tagen? Gibt es etwas zu ernten? Was ist heilsam hier und jetzt? Die Fragen nimmt jeder und jede für sich schweigend mit durch den landwirtschaftlich geprägten Garten in Richtung Pfäffikon.