Gesellschaft 10. September 2024, von Mirjam Messerli

Pilgern für die Religionsfreiheit: Zwangspause und Klartext

Gesellschaft

Die liberale Muslimin Seyran Ateş pilgert von Basel nach Genf. Knieschmerzen zwangen sie zu einer Pause – in der sich Ateş Zeit für ein Gespräch mit «reformiert.» nahm.

Frau Ateş, Ihr Einsatz für die Religionsfreiheit wurde nach der dritten Etappe jäh unterbrochen, ihr Knie ist geschwollen. Wie geht es Ihnen?

Es geht mir gut. Ich bin nur traurig, dass ich eine Etappe ausfallen lassen musste. Aber das gehört zum Pilgern dazu. Ich habe ja schon viele Pilgerreisen gemacht. Man muss auf seinen Körper hören.

Können Sie weiter pilgern bis Genf?

Ich kann. Mir wird Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen zugeschrieben (lacht). Ich will bis Genf pilgern und dort der Uno unsere Petition für Religionsfreiheit überreichen. Zum Glück sind die nächsten Etappen mit weniger Höhenmetern verbunden…

Glücklicherweise sind Sie nicht alleine unterwegs, sondern werden von einer multireligiösen Truppe begleitet. Hätten Sie gedacht, dass sich spontan so viele Menschen unterwegs anschliessen?

Nein, ich war sehr positiv überrascht. Schon am ersten Tag schlossen sich uns 22 Menschen spontan an, und so ging es weiter. Ich bin ja auch in Norwegen schon gepilgert. Fünfeinhalb Wochen auf dem Sankt Olavsweg von Oslo nach Trondheim. Dort sind auch Menschen dazu gekommen, aber nicht so viele wie hier in der Schweiz. 

Wir pilgern für Frieden, für Religionsfreiheit und für einen liberalen Islam. Das grosse Interesse bestätigt mir den Sinn dieses Projekts.
Seyran Ateş

Was bedeutet Ihnen das?

Es bewegt und freut mich sehr. Und es zeigt mir, dass unser Thema hochaktuell ist. Wir pilgern ja für Frieden, für Religionsfreiheit und für einen liberalen Islam. Auch die Veranstaltungen rund um die Pilgerreise waren bisher sehr gut besucht. Das grosse Interesse bestätigt mir den Sinn dieses Projekts.

Was kann es bewirken?

Ich bin überzeugt, dass es grundsätzlich einen positiven Effekt hat. Gerade in einer Zeit, in der wir weltweit in einer Art «Obacht»-Stellung leben. Wir haben nicht geglaubt, dass in Europa, vor unserer Haustür, wieder Krieg herrschen wird. Und die Ukraine gehört nun mal zu Europa, auch wenn das gewisse politische Kräfte anders sehen. Studien zeigen, dass gerade junge Menschen sich grosse Sorgen um ihre Zukunft machen: Krieg in Europa, im Nahen Osten, Menschen auf der Flucht, Klimawandel, Terror… Es brodelt. Unser Projekt kann im Kleinen zeigen, dass wir gewisse Probleme nur miteinander lösen können.

Es ist meine Pflicht als Muslimin, mich von Extremisten zu distanzieren, aufzuklären, Klartext zu reden.
Seyran Ateş

Sie haben auch terroristische Bedrohungen angesprochen. Was sagen Sie als liberale Muslimin dazu, dass der Islam nach Attentaten wie demjenigen in Solingen unter Generalverdacht steht?

Wenn zum Beispiel aus der christlichen Glaubensgemeinschaft regelmässig «im Namen des Herrn» Attentate verübt würden, würde man von den Christinnen und Christen auch Erklärungen verlangen. Man würde verlangen, dass sie sich davon distanzieren. Davon bin ich überzeugt. Als liberale Muslimin ist es mir zudem ein Bedürfnis laut zu sagen: das passiert nicht in meinem Namen! Das passiert nicht im Namen der muslimischen Glaubensgemeinschaft. Das sind Extremisten. Und diese Verrückten schaden auch allen liberalen Musliminnen und Muslimen. Es ist meine Pflicht als Muslimin, mich von Extremisten zu distanzieren, aufzuklären, Klartext zu reden.

Und das machen Sie auch unterwegs, beim Pilgern.

Ich versuche es. Deshalb heisst die Pilgerreise «Walk & Talk». Ich glaube, Projekte wie dieses braucht es mehr denn je. Wir müssen miteinander reden. Es bringt nichts, Probleme tot zu schweigen. Wir haben in Deutschland ein Problem mit jungen Männern muslimischen Hintergrunds, die sich radikalisieren. Wir können darüber reden oder das Thema der AfD überlassen. Die spricht es richtigerweise an. Falsch ist, wie sie es dann politisch ausschlachtet.

Pilgern für die Religionsfreiheit

Die muslimische Menschenrechtsaktivistin Seyran Ateş, der Basler Kirchenratspräsident Lukas Kundert, Kirchenrätin Anita Vögtlin und Pfarrer Johannes Weimann wollen in der Schweiz ein Zeichen für Religionsfreiheit und Frieden setzen. Sie pilgern im September auf dem Jakobsweg von Basel nach Genf und hoffen, dass sich ihnen weitere Menschen anschliessen. 

Die Route führt von der Stadt am Rhein über Welschenrohr, Solothurn, Bern, Fribourg und Lausanne nach Genf, wo eine Petition für Religionsfreiheit an die UNO übergeben werden soll.

Neue Pilgerinnen und Pilger können sich während des gesamten Weges oder auch nur auf Teilstrecken anschliessen. Alle Daten und Informationen zur Pilgeroute gibt es auf der Website der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt.

Mit solchen Positionen haben Sie sich in ihrem Heimatland Deutschland nicht nur Freunde gemacht.

Ja, vor allem nicht in linken Kreisen – zu denen ich mich ja als Feministin und Opferanwältin durchaus zähle. Wenn ich aber über Ehrenmorde oder das Tragen des Kopftuchs reden will, heisst es oft: Huch, darüber können wir doch nicht reden. Das ist rassistisch. Ich will aber über diese Probleme reden. Weil es sie nun mal gibt.

Angefeindet und mit dem Tod bedroht werden Sie von Islamisten.

Ja, weil wir liberalen Musliminnen und Muslime für Frauenrechte oder für die Rechte der LGBTQ-Gemeinde einstehen. Deshalb brauche ich meine «Schutzengel» (zeigt auf ihre Bodyguards).

Welche Begegnung hat Sie bisher auf der Pilgerreise am meisten beeindruckt?

Es war kein einzelnes Erlebnis. Es haben sich immer wieder Gespräche genau über diese schwierigen Themen ergeben. Das zeigt mir, dass mein Einsatz wichtig und sinnvoll ist.

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