«Ich verstehe Pilgern als Gottesdienst»

Theologie

Der reformierte Pfarrer Theo Bächtold gründete das Pilgerzentrum am Offenen St. Jakob. Seine Begeisterung war und bleibt ansteckend.

«Ultreia!» So begrüssen sich zwei Pilger auf dem spanischen Jakobsweg. Man sagt, das heisse «Vorwärts, geh über dich hinaus!». Was bedeutet dir – unter Pilgern duzt man sich ja – dieser Gruss?

Theo Bächtold: Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt könnte «Ultreia» «froher Dienst» heissen. Ich verstehe Pilgern durchaus als Gottesdienst, und so stimmt der Gruss für mich: Man wünscht sich einen frohen Gottesdienst. Das ist umfassender, als sich nur Mut und Ausdauer zu wünschen. In Frankreich grüssen sich Pilgerinnen und Pilger mit «bon courage». Pilgern hat aber immer auch eine spirituelle und religiöse Dimension.

Ist es sogar die populärere Form des Gottesdiensts? Als du Anfang der Neunziger in Schlatt Pfarrer warst, sollen am Montag mehr Leute zum Tagespilgern mitgekommen sein als am Sonntag in die Kirche.

Mit Pilgern konnte man tatsächlich mehr Leute für kirchliche Aktivitäten gewinnen. Und im Moment verspüre ich eine grosse Freude in den Gruppen. Die Menschen sind dankbar, dass sie sich endlich wieder auf den Weg machen können. Worin besteht denn der Dienst an Gott beim Pilgern? Das Wesentliche ist der Einsatz. Die Kirchgänger müssen kommen, sitzen, zuhören. Beim Pilgern darf man sich auch noch bewegen. Das kann anstrengend sein, man kann an die Grenzen kommen.

Kirchen und Begegnungen am Weg geben Impulse für kulturelle Horizonterweiterungen.

Du gehst mittlerweile lieber pilgern als in die Kirche zum Gottesdienst? 

Der Gottesdienst hat natürlich seinen Platz, ich gehe regelmässig hin. Pilgern ist für mich ganzheitlicher, weil es den Menschen in allen Dimensionen anspricht, auch körperlich, alle Sinne kommen zum Einsatz. Sinnfragen stellen sich den Suchenden, Kirchen und Begegnungen am Weg geben Impulse für kulturelle Horizonterweiterungen. 

Vor der Pandemie kamen jedes Jahr mehr Pilger in Santiago an, überall entstehen neue Pilgerwege. Wie erklärst du dir den Boom? 

Das Pilgern erfüllt sicher eine Sehnsucht nach ganzheitlicher Frömmigkeit oder Spiritualität. Es kam in der reformierten Kirche in der gleichen Zeit auf wie das ebenfalls körperbetonte Fasten oder die Meditation. Das Pilgern, das Meditieren und das Fasten sind drei Wege, um sich selbst zu finden. Das ist es, was die Menschen anspricht.

Ist der Weg das eigentliche Ziel, wie es immer wieder heisst? 

Das ist mir zu schwammig. Ich würde sagen: Das Ziel gibt dem Weg den Sinn. Das geografische ist nur eine Metapher für das innere Ziel: Gott zu finden oder das Ewige, mit dem Göttlichen in Einklang zu kommen.

Ich habe nichts dagegen, wenn ich als Genusspilger gelte.

Und welche Rolle spielt dabei das Gruppenerlebnis?

Das ist sehr wichtig. Es wird viel gelacht, wir haben es lustig! Auch das gemeinsame Geniessen ist wichtig. Das Panaché nach der Tagesetappe und das Abendessen bilden immer einen Höhepunkt. Für einige Pilgergruppen gehört zum Pilgern auch Verzicht. Ich hingegen habe nichts dagegen, wenn ich als «Genusspilger» gelte. 

Genusspilgern, Lustpilgern, Luxuspilgern – schiessen solche Trends nicht übers eigentliche Ziel hinaus?

Nein, ich finde nicht. In Colignac in Frankreich haben uns Einheimische einmal als joyeux pèlerins bezeichnet, weil wir uns am Ruhetag in einem Restaurant haben verwöhnen lassen. Ich habe mir gedacht: Ja genau, das will ich sein, ein fröhlicher Pilger! Ich pilgere, weil es mir guttut, auf jeder Ebene des Seins.

Theo Bächtold (76)

Theo Bächtold (76)

Theo Bächtold war erst selbst Jakobspilger, dann Pilgerbegleiter. Ab 1996 rief er als Pfarrer am Zürcher St. Jakob das erste reformierte Pilgerzentrum im deutschsprachigen Raum ins Leben, wo er heute noch aushilft. Als Motiv gab er damals an: «Pilgern ist ein Gehen in der Gegenwart Gottes.»