«Ich hatte den Namen verloren, ich war nur noch eine Nummer»

Porträt

Nina Weil hat drei Konzentrationslager überlebt. Vergessen kann sie das Grauen nicht, Arbeit half ihr, darüber hinwegzukommen.

«Arbeit macht frei» – so antwortet Nina Weil auf die Frage, wie sie mit den Erinnerungen an die Zeit in den Konzentra­tionslagern umgeht. Dass sie den Spruch von sich aus zitiert, ist fast unglaublich, hat doch diese Toraufschrift im KZ Auschwitz, mit der die Nazis ihre Opfer verhöhnten, sie während der furchtbarsten Zeit ihres Lebens begleitet. Der Spruch in seiner ursprünglichen Bedeutung stimme für sie, sagt Nina Weil, weil Arbeit ihr geholfen habe, über das Erlebte hinwegzukommen. 1942 kam sie als Zehnjährige mit ihrer Mutter nach Theresienstadt, später nach Auschwitz. Dort wurde ihr die Nummer 71978 auf den Unterarm tätowiert. «Da habe ich sehr geweint. Nicht wegen des Schmerzes, nein, wegen der Nummer. Denn ich hatte den Namen verloren, ich war nur noch eine Nummer», erzählt die heute 85-Jährige.

Dass sie überlebt hat, verdankt sie ihrer Mutter. Diese gab im KZ das Alter der Tochter um fünf Jahre höher an, damit sie als arbeitsfähig eingestuft wurde. Später, nachdem die Mutter im März 1944 an Erschöpfung und Entkräftigung gestorben war, überstand Nina Weil eine Selektion durch KZ-Arzt Josef Mengele: Dieser hatte sie schon nach links in die Kolonne eingeteilt, welche in die Gaskammer geschickt wurde. Als sie zu ihm sagte: «Meine Mutter ist tot, aber ich möchte noch einmal Prag sehen», teilte Mengele sie nach rechts um, wo die Menschen dem Arbeitslager zugeteilt wurden.

Das Leben geht weiter. Nach der Befreiung durch russische Soldaten kam Nina Weil nach Prag, fand Aufnahme in einem katholischen Waisenhaus, danach in einem jüdischen Internat. Später arbeitete sie als Laborantin. Das sichere Leben, das sie sich mit ihrem Mann auf­gebaut hatte, wurde 1968 erneut jäh durchbrochen, als sowjetische Panzer in die Stadt rollten. Das Ehepaar erhielt Asyl in der Schweiz, wo es seither im Raum Zürich lebt.

Über ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs konnte Nina Weil erst nach vielen Jahren sprechen, und nur mit ihrem Mann. Psychologische Hilfe hat sie nie in Anspruch genommen. «Das Leben geht weiter, man muss das Ganze verarbeiten, irgendwie.» Kinder wollte sie nie: «Niemand soll je Kinder von mir anschreien können, wie Juden damals in den KZ angeschrien wurden.»

Nicht vergessen. All das Grauen ist immer noch präsent in ihr. Nicht tagtäglich, aber immer wieder. «Ich schreie manchmal in der Nacht.» Erinnerungen an die KZ-Zeit überkommen sie auch abrupt: Wenn sie einen deutschen Schäferhund sieht, bestimmte Gerüche aus einer Kantine riecht oder wenn sie einen speziellen Dialekt hört, den ein Deutscher damals gesprochen hatte.

«Man kann vergeben, aber nicht vergessen», sagt Nina Weil. Ihr Verhältnis zum Glauben nennt sie zwiespältig. «Ich glaube an Gott, aber ich nenne ihn nicht Gott. Doch es ist etwas Höheres da.» Als eine der letzten Holocaust-Überlebenden in der Schweiz setzt sie sich heute mit öffentlichen Auftritten dafür ein, dass, was damals geschah, nie in Vergessenheit gerät. Insbesondere die Jugend in der Schweiz wisse sehr wenig von damals. Darum appelliert sie besonders an die junge Generation, für das Gute auf der Welt zu kämpfen.

Nina Weil, 85

Die Holocaust-Überlebende ist 1932 in Klattau (heute Tschechien) geboren und in Prag aufgewachsen. Von 1942 bis 1945 war sie in den Konzentrationslagern There­sienstadt, Auschwitz und Stutthof interniert. Nach dem Prager Frühling kam Weil 1968 in die Schweiz. Foto- und Videoporträts von ihr und andern Holocaust-Überlebenden sind bis am 3. Juni in der Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors» in Zürich zu sehen.

www.last-swiss-holocaust-survivors.ch