Wirklich an die Befreiung
glaubte sie erst, als die Deutschen ins Lager zurückkehrten. Aber
diesmal nicht als Aufseher. Unter der Kontrolle der Russen taten sie
das, was zuvor die Juden tun mussten: Strassen kehren, die Latrinen
leeren. Ihr erster Gedanke nach dem Abzug der Nazis: «Ja, es gibt einen
Gott.» Auf das Zitat aus ihrem Buch angesprochen, zögert Friedlander
keine Sekunde: Sie sei «immer gläubig gewesen, aber nicht fromm».
Dann sucht sie nach Worten, um zu beschreiben, was sie damit meint. Sie
beginnt einen Satz, bricht ihn ab, nimmt einen neuen Anlauf. In Momenten wie jenem der Befreiung vor 75 Jahren verwende man Formulierungen, die
man im normalen Leben nicht mehr brauche. «Gefühlssachen halt.» Es war
«doch wirklich unvorstellbar», plötzlich ein freier Mensch zu sein.
Hinaus auf die Strassen gehen zu können ohne Angst, erschossen zu
werden. Den Lagerzaun entlang fuhren die Lastwagen der Roten Armee zur
Siegesparade nach Prag. «Die Soldaten sahen so zerlumpt aus wie wir.»
In Theresienstadt traf sie Adolf Friedländer wieder, den sie noch vom
Jüdischen Kulturbund in Berlin kannte. Auch er hatte seine gesamte
Familie verloren. Nur wenige Tage nach der Befreiung heiratete sie ihn.
Der letzte im Lager verbliebene Rabbiner traute das Paar.
1946
bestiegen Adolf und Margot Friedlander ein Schiff nach New York. Sie
nahmen die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Die deutschen Pünktchen
auf dem «a» verschwanden aus ihrem Namen.
2003 kehrte Friedlander
erstmals nach Berlin zurück, sechs Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Sie
folgte einer Einladung des Berliner Senats für «verfolgte und emigrierte Bürger». Nicht viel erinnerte an ihre Stadt. Berlin hatte sich zweimal
neu erfunden, als geteilte Stadt und im Bauboom nach der Wende.
Zehn unvorstellbare Jahre
In der Wohnung stehen viele Fotos von Empfängen, Ehrungen und
Geburtstagen. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist zu sehen.
Am Tag vor dem Gespräch mit «reformiert.» war Friedlander noch in der
Oper, der «Rosenkavalier».Sie ist dankbar für ihr Beziehungsnetz. Dafür, «dass man mir zuhört». In Amerika habe ihre Vergangenheit niemanden
interessiert. Ohnehin seien sie Europäer geblieben. Mindestens einmal im Jahr reisten sie nach Europa. Zu Verwandten nach Italien, zu Freunden
nach Zürich. «Die Schweiz liebten wir sehr.»
Nach Deutschland, in
jenes Land, das seine Familie ausgelöscht hatte, wollte ihr Mann nie.
Italiens Schuld hingegen und «was die Schweiz Unschönes getan hatte»,
interessierte ihn nicht. Als sie doch einmal drei Tage in München waren, sagte er nur: «Die schöne Stadt könnte auch in Italien sein.»
Friedlander lacht. Und schweigt dann nachdenklich.
Manchmal tue es ihr «nachträglich ein bisschen leid», dass sie die Weigerung ihres
Mannes, nach Berlin zurückzukehren, immer akzeptiert habe. «Hätte er
dieses Berlin, in dem ich jetzt lebe, gesehen und gespürt, er hätte
anders gedacht.» Und da taucht es unverhofft wieder auf, das so oft
gesagte Wort: «unvorstellbar». Doch jetzt hat es seinen Schrecken
verloren. «Seit ich wieder in Berlin bin, habe ich zehn unvorstellbare
Jahre verbracht.»
Friedlander freut die Anerkennung vom Staat.
Glücklich macht sie, dass so viele Menschen dankbar sind für ihr
Erzählen. «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein so
unbeschreibliches Leben führe.» Das Geschenk, in der Heimat wieder zu
Hause zu sein, hätte sie gerne mit ihrem Mann geteilt. Vorsichtig legt
sie die Urkunde zurück zwischen die Bücher.