Schwerpunkt 29. April 2020, von Felix Reich

Die grosse Befreiung

75 Jahre danach

Margot Friedlander (98) erzählt von den Schrecken der Nazizeit und dem Glück, in der Hei­mat wieder zu Hause zu sein. Und sie sagt, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt.

Margot Friedlander zieht eine Mappe aus dem mit Büchern, Ordnern und Karten überfüllten Regal, lose Papiere fallen auf den Boden. Sie klappt vorsichtig den Deckel auf, fährt mit den Fingerkuppen der rechten Hand über das gestärkte Papier. Eine Geste, die Ehrfurcht, Stolz und Staunen verrät.

«In Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen besonderen Verdienste verleihe ich Frau Margot Friedlander, Berlin, das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.» Die von Christian Wulff, dem damaligen Bundespräsidenten, unterschriebene Urkunde ist mit dem 9. November 2011 datiert.

Der 9. November ist verbunden mit der Pogromnacht von 1938 und dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte: die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Mordend und plündernd zogen die Nationalsozialisten durch die Strassen. Die systematische Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung war endgültig in gewaltsame Verfolgung umgeschlagen.

Dokumentarfilm zur Wannseekonferenz

Im Alter von 100 Jahren erzählt Margot Friedlander auch einer ZDF-Dokumentation zur Wannseekonferenz von 1942 über ihre Erinnerungen. In der Berliner Villa planten die Nazis den effizienten Vollzug des schrecklichen Massenmords an den Jüdinnen und Juden.

Friedlander war damals gerade 17 Jahre alt geworden. Ihr vier Jahre jüngerer Bruder Ralph hätte am 12. November 1938 seine Bar-Mizwa feiern sollen. Doch nun lief sie durch den Berliner Bezirk Charlottenburg, wo sie wohnte, an SA-Männern und Schaulustigen vorbei, in der Nase einen beissenden Brandgeruch. «Das Knirschen des Glases unter meinen Schuhen schien mir unendlich laut», schreibt sie in ­ihrem 2008 veröffentlichten Buch.

Mit den Fensterscheiben der jüdischen Geschäfte und Synagogen ging für Margot Friedlander auch die Gewissheit zu Bruch, Deutschland sei doch ein zivilisiertes Land. Spätestens jetzt war klar, dass Adolf Hitler nicht verschwinden würde. «Wir mussten verschwinden.»

Ihr Vater verliess Berlin im April 1939, ein halbes Jahr vor Kriegsausbruch, nachdem er als Besitzer eines Knopfgeschäfts enteignet worden war. Er hoffte, in Belgien in Sicherheit zu sein. 1935 hatten sich die Eltern getrennt. Der  Vater starb 1942 in einem Vernichtungslager.

Die Nachricht der Mutter

Es war am Morgen des 20. Januar 1943, als Friedlander von der Nachtschicht in einem Industriewerk, wo sie als 21-Jährige Zwangsarbeit verrichten musste, nach Hause kam. Noch am Abend sollte sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter Berlin verlassen. Vor der Wohnung stand ein Mann in Gestapo-Uniform.

Friedlander schlich sich vorbei und klingelte bei einer Nachbarin eine Etage höher. Dort erfuhr sie, was in der Nacht geschehen war. Der Bruder und zwei Verwandte, die sich in der Wohnung aufgehalten hatten, waren verhaftet worden. Die Mutter fand die Wohnung versiegelt, ihr 17-jähriger Sohn war weg. Offensichtlich war dieser letzte Fluchtversuch der Familie verraten worden. Bereits 1938 war der Mutter und den beiden Kindern die Ausreise misslungen, weil die USA die Visa verweigert hatten.

Weil sie den Sohn nicht im Stich lassen wollte, stellte sich die Mutter freiwillig. Der Tochter hinterliess sie eine Bernsteinkette, ein Adressheft mit möglichen Verstecken und einen Satz: «Versuche, dein Leben zu machen.» Später sollte Friedlander erfahren, dass Mutter und Sohn auseinandergerissen wurden, kaum hatten sie sich gefunden. Beide starben in Auschwitz.

Als Margot Friedlander den Tag schildert, an dem sie die Mutter und den Bruder verlor, stockt ihre Stimme. Ihr Blick, der zuvor das Gegenüber immer mit freundlicher Aufmerksamkeit fixiert hatte, schweift ab und sucht irgendwo in der Berliner Dachlandschaft Halt, die an diesem erstaunlich milden Februartag hinter der halb offenen Balkontür liegt. Lily, die schwarze Katze, erhebt sich vom Bett, das in der anderen Ecke der geräumigen Einzimmerwohnung steht. Sie streckt sich, streicht durch die helle Altersresidenz auf den kleinen Balkon.

Vom Verlust der Mutter und des Bruders hat Friedlander schon hundertfach erzählt. Vor Schulklassen, in Hörbüchern, an Vorträgen, in Radiointerviews. Doch eine Routine stellt sich nicht ein, wenn schmerzhafte Erinnerungen wiederkehren.

Friedlander erzählt nun fragend, ein wenig sprunghaft auch. «Hat meine Mutter Ralph noch drücken können? Was war das für ein Abschied?» Unzählige Familien wurden so auseinandergerissen. «Plötzlich waren sie keine Familien mehr.»

Immer neu nach Worten tastend, versucht Friedlander, «das Unvorstellbare» zu beschreiben. Die Erinnerungsarbeit ist ­ihre Lebensaufgabe. «Sonst vergisst sich das doch alles wieder schnell», sagt sie ganz ohne Pathos und ohne Vorwurf in der Stimme. Den Jugendlichen ruft die 98-Jährige jeweils zu: «Werden Sie die Zeitzeugen, die wir nicht mehr lange sein können!» Wenn ihnen ­ihre Freiheit lieb sei, müssten sie die Erinnerung an die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus wachhalten. «Denn nur wer weiss, was geschehen ist, kann auch verhindern, dass es wieder passiert.»

Friedlander spricht die Schülerinnen und Schüler nie als Nachfahren von Tätern an. Auch von ihren Freundinnen und Freunden in Berlin will sie nicht wissen, ob deren Väter oder Grossväter an der Schoah beteiligt waren. Sie reiche allen «die Hand als Menschen». Ohnehin stecke in jedem Menschen etwas Gutes, sagt sie. «Man muss nur das Gute aus ihnen herausholen, nicht das Schlechte.» Friedlander betreibt keine Vergangenheitsbewäl­tigung, sie hofft vielmehr, die Wiederkehr des Unvorstellbaren zu verhindern.

Sie weiss, dass sie zuweilen auch auf taube Ohren stösst. Mit der Gelassenheit des Alters und dem Anflug ihres verschmitzten, irgendwie menschenfreundlichen Lächelns, das von ihr vielleicht am stärksten in Erinnerung bleibt, sagt sie: «Lassen sich drei von 100 Leuten im Publikum von meiner Geschichte berühren, habe ich viel erreicht.»

Die Bomben der Befreier

Nachdem sie Mutter und Bruder verloren hatte, tauchte Friedlander unter. Die ersten Kontakte standen noch im Adressbuch der Mutter, dann folgte sie den Hinweisen ihrer Helfer, zwischendurch übernach­tete sie auf einer Parkbank. Lange konnte sie in ihren Verstecken nie bleiben. «Ich lebte für den Augenblick, die nächsten Stunden.» Jeder Abschied war ein Abschied für immer. Einmal musste sie überstürzt weg, damit ihre Notlage nicht ausgenutzt werden konnte.

Aus Angst, ihr Aussehen könnte sie verraten, liess sich Friedlander die Nase operieren, färbte ihre Haare. Draussen trug sie stets ein Kreuz an einer schmalen Kordel aus Garn um den Hals, das sie von einem Helfer geschenkt bekommen hatte. «Es schützte mich wie ein Talisman.»

Warum man ihr half, wusste sie nicht. Ohnehin durfte sie nicht zu viel wissen. Denn Wissen war gefährlich. Die Namen der Helfer  und Helferinnen vergass sie am besten gleich wieder, um in einem möglichen Verhör niemanden zu gefährden. Während der Fliegerangriffe konnte sie nicht in die Schutzkeller. Das Risiko, entdeckt zu werden, war zu gross. Sie hockte in Hauseingängen, als die Bomben der Befreier fielen.

Dann, an einem Frühlingstag im April 1944, wurde Friedlander von Greifern angesprochen. Das waren Juden, die im Dienst der Nazis nach anderen Juden suchten. Noch auf dem Weg zur Wache sagte Friedlander den Satz: «Ich bin jüdisch.»

Mit den drei Worten lieferte sie sich aus. Sie wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Paradoxerweise wirkte das Geständnis entlastend: «Aus dem Ich war wieder ein Wir geworden», schreibt Friedlander in ihren Erinnerungen. Sie wusste sich wieder vereint mit dem Schicksal der Familie und aller anderen Juden. Im Untergrund hatte sie sich schuldig gefühlt, weil sie nicht mit der Mutter und dem Bruder mitgegangen war.

Die «leise Hoffnung», die Familie wiederzusehen, trug Margot Friedlander lange Zeit mit sich. Sie erlosch, als in Theresienstadt die Züge aus Auschwitz ankamen. «Mit Menschen, die keine Menschen mehr waren.» Viele hatten den Transport nicht überlebt. Die Toten seien kaum von den Lebenden zu unterscheiden gewesen, sagt sie. «Da starb das letzte Stück der leisen Hoffnung.» Fried­lander hält inne und verbirgt das Gesicht in ­ihren Händen. Stille. Damals war sie sich sicher: Solche Grau­samkeiten konnten der Bruder und die Mutter nicht überlebt haben.

«Der Osten» hatte ein Gesicht bekommen. Bisher war er eine Vermutung gewesen. Bereits nach der Verhaftung in Berlin und später in Theresienstadt versuchten alle zu verhindern, auf Züge in den Osten verladen zu werden. Vom wahren Schrecken erfuhren sie erst jetzt.

Als die Schweizer kamen

Am 5. Mai 1945 übergaben die Deutschen Theresienstadt dem Interna­tio­nalen Komitee des Roten Kreuzes. Oder wie Margot Friedlander sagt: «Dann kamen die Schweizer.» Statt der Hakenkreuzflagge flatter­te das Rote Kreuz auf weissem Grund im Wind. Drei Tage später übernahmen die Russen das Kommando.

«In Theresienstadt wollten die Nazis etwas inszenieren, das es nie gab.» Die Propaganda versuchte, den Schein eines selbst verwalteten Ghettos aufrechtzuerhalten, und gewährte dem Roten Kreuz vereinzelt Zutritt. Nachdem die Armee der Sowjets das Lager befreit hatte, stand das Tor erstmals offen. Und Margot Friedlander staunte über das eigene Überleben.

Jubel und Glockenklang kündeten vom Frieden

Der 8. Mai 1945 in der Schweiz: Der Sprecher von Radio Beromünster jubiliert, die Zeitungsverkäufer rufen mit lauter Stimme: «Der Krieg ist aus!» Am lang ersehnten Tag, der zumindest Europa den Frieden brachte, war schulfrei. An vielen Ladentüren in Bern und Zürich hingen Schilder: «Wegen Frieden geschlossen». In anderen Läden fanden kleine Fahnen der Alliierten und solche mit Schweizerkreuz reissenden Absatz. Als am Abend in der ganzen Schweiz die Kirchenglocken läuteten und die Menschen zu den Fest­gottesdiensten strömten, schwenkten viele ihre Flaggen.

«Freunde trotz allem»

Eine Fahne war aber verhasst: die mit dem Hakenkreuz. Das deutsche Rei­sebüro in Zürichs Bahnhofstrasse war während des ganzen Krieges eine touristisch getarnte NS-Propagandazentrale gewesen. Hitler-Bilder und Hakenkreuze schmückten die Schaufenster. Nun schoben aufgebrachte Demonstranten die Rollläden hoch. Fensterglas ging zu Bruch. Den Schweizer Polizisten gelang es nicht, die mittlerweile 1000 Demonstranten auseinanderzutreiben. Deutschenhass war nun populär. Aber nicht beim Theologen Karl Barth, der als unerbitter­licher Kritiker der Nazis 1934 seinen Bonner Lehrstuhl verlassen musste. Er hatte den Hass der Zeitgenossen vorausgesehen und bereits im Januar 1945 in seinem Vortrag «Die Deutschen und wir» gemahnt: «Deutschland braucht nunmehr Freunde, Freunde, trotz allem!»

Insel oder volles Boot

Einen nachdenklichen Ton schlug am 16. Mai 1945 auch Max Wolff an, der Präsident der Zürcher Synode: «Zur Busse haben wir alle Ursache, ist doch unsere eigene Mitschuld an der Weltkatastrophe offenkundig.» Er spielte auf die hartherzige Zurückweisung jüdischer Menschen an der Schweizer Grenze an, die für die meisten den Tod in den Vernichtungs­lagern bedeutete. Durchgesetzt hatte sich eine andere Erinnerungskultur, die erst mit dem Bergier-Bericht ihre Gültigkeit verlor: die verschonte Schweiz, die zur Friedensinsel der «Bedrohten und Geschlagenen» wurde, wie es im Jahresrückblick der «Filmwochenschau» hiess. Dort war auch zu hören, dass die Schweiz für viele Flüchtlinge das «Rettungsboot im Sturm» geworden sei. Die Metapher vom vollen Boot, die Bundesrat Eduard von Steiger 1942 nach der Grenzschliessung in seiner Rede vor 6000 Mitgliedern der Jungen Kirche in Zürich-Oerlikon gebrauchte, wurde so wenige Monate nach Kriegsende ins Gegenteil verkehrt. bu

Dieser Krieg forderte 60 Millionen Todesopfer

Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, die am 8. Mai 1945 in Kraft trat, ging in Europa ein verheerender Krieg zu Ende, den Deutschland am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen begonnen hatte. Die Zahl der Todesopfer wird auf 60 Millionen geschätzt. Im pazifischen Raum dauerten die Kämpfe noch bis im September an. Im August 1945 warfen die USA Atombomben über Hiroshima und Nagasaki ab. Einen Monat später kapitulierte das japanische Kaiserreich.

Sinnlos und vergeblich

1985 bezeichnete der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Kapitulation den 8. Mai als «Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft». Erstmals wurde in der Bundesrepublik die Kapitulation offiziell als Befreiung interpretiert. Die meisten Deutschen hätten geglaubt, «für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen», sagte von Weizsäcker. Doch spätestens in der deutschen Niederlage habe sich gezeigt: «Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.»

Zu diesen unmenschlichen Zielen der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler gehörte die Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden in den Lagern umgebracht. Darauf verwies auch von Weizsäcker: Am Anfang der Gewaltherrschaft stand Hitlers «abgrundtiefer Hass gegen unsere jüdischen Mitmenschen». Seinen Hass habe der Diktator nie verschwiegen, «son­dern das ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses gemacht». bu

Wirklich an die Befreiung glaubte sie erst, als die Deutschen ins Lager zurückkehrten. Aber diesmal nicht als Aufseher. Unter der Kontrolle der Russen taten sie das, was zuvor die Juden tun mussten: Strassen kehren, die Latrinen leeren. Ihr erster Gedanke nach dem Abzug der Nazis: «Ja, es gibt einen Gott.» Auf das Zitat aus ihrem Buch angesprochen, zögert Friedlander keine Sekunde: Sie sei «immer gläubig gewesen, aber nicht fromm».

Dann sucht sie nach Worten, um zu beschreiben, was sie damit meint. Sie beginnt einen Satz, bricht ihn ab, nimmt einen neuen Anlauf. In Momenten wie jenem der Befreiung vor 75 Jahren verwende man Formulierungen, die man im normalen Leben nicht mehr brauche. «Gefühlssachen halt.» Es war «doch wirklich unvorstellbar», plötzlich ein freier Mensch zu sein. Hinaus auf die Strassen gehen zu können ohne Angst, erschossen zu werden. Den Lagerzaun entlang fuhren die Lastwagen der Roten Armee zur Siegesparade nach Prag. «Die Soldaten sahen so zerlumpt aus wie wir.»

In Theresienstadt traf sie Adolf Friedländer wieder, den sie noch vom Jüdischen Kulturbund in Berlin kannte. Auch er hatte seine gesamte Familie verloren. Nur wenige Tage nach der Befreiung heiratete sie ihn. Der letzte im Lager verbliebene Rabbiner traute das Paar.

1946 bestiegen Adolf und Margot Friedlander ein Schiff nach New York. Sie nahmen die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Die deutschen Pünktchen auf dem «a» verschwanden aus ihrem Namen.

2003 kehrte Friedlander erstmals nach Berlin zurück, sechs Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Sie folgte einer Einladung des Berliner Senats für «verfolgte und emigrierte Bürger». Nicht viel erinnerte an ihre Stadt. Berlin hatte sich zweimal neu erfunden, als geteilte Stadt und im Bauboom nach der Wende.

Zehn unvorstellbare Jahre

In der Wohnung stehen viele Fotos von Empfängen, Ehrungen und Geburtstagen. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist zu sehen. Am Tag vor dem Gespräch mit «reformiert.» war Friedlander noch in der Oper, der «Rosenkavalier».Sie ist dankbar für ihr Beziehungsnetz. Dafür, «dass man mir zuhört». In Amerika habe ihre Vergangenheit niemanden interessiert. Ohnehin seien sie Europäer geblieben. Mindestens einmal im Jahr reisten sie nach Europa. Zu Verwandten nach Italien, zu Freunden nach Zürich. «Die Schweiz liebten wir sehr.»

Nach Deutschland, in jenes Land, das seine Familie ausgelöscht hatte, wollte ihr Mann nie. Italiens Schuld hingegen und «was die Schweiz Unschönes getan hatte», interessierte ihn nicht. Als sie doch einmal drei Tage in München waren, sagte er nur: «Die schöne Stadt könnte auch in Italien sein.» Friedlander lacht. Und schweigt dann nachdenklich.

Manchmal tue es ihr «nachträglich ein bisschen leid», dass sie die Weigerung ihres Mannes, nach Berlin zurückzukehren, immer akzeptiert habe. «Hätte er dieses Berlin, in dem ich jetzt lebe, gesehen und gespürt, er hätte anders gedacht.» Und da taucht es unverhofft wieder auf, das so oft gesagte Wort: «unvorstellbar». Doch jetzt hat es seinen Schrecken verloren. «Seit ich wieder in Berlin bin, habe ich zehn unvorstellbare Jahre verbracht.»

Friedlander freut die Anerkennung vom Staat. Glücklich macht sie, dass so viele Menschen dankbar sind für ihr Erzählen. «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein so unbeschreibliches Leben führe.» Das Geschenk, in der Heimat wieder zu Hause zu sein, hätte sie gerne mit ihrem Mann geteilt. Vorsichtig legt sie die Urkunde zurück zwischen die Bücher.

Margot Friedlander mit Malin Schwerdtfeger: «Versuche, dein Leben zu machen.» Als Jüdin versteckt in Berlin. Rohwolt 2008.