Das Grenzland zwischen Grossmächten

Holocaustüberlebende aus der Ukraine

In der Ukraine sind sich seit jeher Völker aus unterschiedlichen Kulturkreisen begegnet. Der jüdischen Kultur setzte der Zweite Weltkrieg jedoch ein brutales Ende.

«Wenn ich einmal reich wär», singt Tevje, der Milchmann, mit gemütvollem Bariton in «Anatevka». Das 1964 in New York uraufgeführte Werk gehört bis heute zu den weltweit am meisten aufgeführten Musicals, und das Lied vom reichen Mann hat sich als Evergreen in ungezählten Ohren eingenistet.

Die Handlung nach einem Roman von Scholem Alejchem erzählt von einer jüdischen Gemeinschaft um 1905 im fiktiven Ort Anatevka. Der Ort liegt in der Ukraine beziehungsweise in jenem Teil, der unter der Herrschaft des Zaren von Russland steht. Andere Teile des Landes gehören zu jener Zeit zur Monarchie Österreich-Ungarn. Und die Menschen, die in Anatevka leben, sind weder Russen noch Ukrainer, sondern polnische Juden.

Wechselvolle Geschichte

So ist «Anatevka», auch bekannt als «Der Fiedler auf dem Dach», ganz nebenbei eine Geschichts- und Kulturlektion über ein Land mit einer komplexen Vergangenheit und einem einstmals blühenden jüdischen Kulturleben. Dieses erreichte seinen Höhepunkt in der Mitte des 19. Jahrhunderts, geriet schon im zaristischen Russland unter Druck und fand mit dem Zweiten Weltkrieg definitiv ein brutales Ende.

Manche bleiben, viele aber flüchten

Als Kinder erlebten sie den Krieg, nun bedroht er sie erneut. Für die letz­ten Holocaustüberlebenden der Ukraine stellte sich in den vergangenen Mo­naten die Frage: Gehen oder bleiben? Im westukrainischen Czernowitz entschieden sich viele für Letzteres. Ihnen hilft die Gamaraal-Stiftung, gegründet von Anita Winter aus Baden. Diese Stiftung unterstützt seit 2014 Holocaustüberlebende in der Schweiz und leistet Bildungsarbeit durch Ausstellungen und Zeitzeugengespräche. Vor drei Jahren hat sie ihre Arbeit auf die Ukraine ausgeweitet und hilft vor allem in Czernowitz Holocaustüberlebenden finanziell und mit medizinischen Gütern. Die Stiftung und ihr Mitarbeiter vor Ort ermöglichten den Videokontakt zu Klara Kaz.

In Berlin in Sicherheit

Die Gamaraal-Stiftung arbeitet auch mit der Jewish Claims Conference (JCC) zusammen, die Holocaustüberlebende im ganzen Land unterstützt. Die JCC organisierte zahlreiche Evakuierungen ins Ausland. So kommt es, dass Dutzende Holocaustüberlebende in Deutschland, dem Land der eins­tigen Täter, Zuflucht gefunden haben. Einer von ihnen ist Wenjamin Erach­milewitsch. Er wohnt nun im Altenzentrum «Erfülltes Leben» in Berlin. «reformiert.» konnte ihn besuchen und auch mit Thomas Böhlke, dem Leiter des Zentrums, sprechen.

Schon der Name Ukraine sagt etwas über die wechselvolle Geschichte des Landes aus. Das ostslawische Wort bedeutet «Grenzland». Grenzterritorien sind naturgemäss stark frequentiert und oftmals auch umkämpft. In der Antike war die Ukraine Siedlungs- und Transitland unterschiedlicher Völkerschaften, so Griechen, Hunnen, Germanen, Mongolen und Slawen.

Im Mittelalter gehörte das Land zur Kiewer Rus, einem Zusammenschluss von osteuropäischen Fürstentümern, aus dem dann das russische Zarenreich hervorging. Im späten Mittelalter geriet der westliche Teil der Ukraine unter polnische Herrschaft, im Osten blieb der russische Einfluss dominant.

Blüte unter Österreich

Dass in der Ukraine gerade auch die jüdische Kultur zur Blüte kam, liegt daran, dass im Königreich Polen für die Juden umfangreiche Glaubens- und Handelsfreiheit galt. 1772 ging der Süden der polnischen Ukraine an Österreich, der Norden an Russland, doch in beiden Gebieten konnte die jüdische Kultur weiterhin gedeihen. In vielen Städten gab es jüdische Stadteile, jiddisch «Schtetl», die zum Hort osteuropäisch-jüdischen Lebens wurden.

Die als Schtetl bezeichneten Stadtteile wurden zum Hort des jüdischen Lebens in Osteuropa.

Starke kulturelle Kräfte entfalteten sich auch in der Bukowina, einer ukrainischen Region unter österreichischer Herrschaft. Deutsch und jiddisch sprechende Siedler kolonisierten auf kaiserliche Einladung das «Buchenland» und trugen zum wirtschaftlichen Aufschwung im 19. Jahrhundert massgeblich bei. Die Bukowina wurde als aufstrebende Region zum österreichischen Herzogtum erhoben, mit der Hauptstadt Czernowitz.

Appelfelds Erinnerungen

Die deutschsprachige Kultur in Czer­nowitz war vor allem von deutsch assimilierten Juden geprägt. Aus ihren Reihen gingen einige bedeutende Literatinnen und Literaten hervor, etwa der Lyriker Paul Celan (1920–1970) oder die Lyrikerin Rose Ausländer (1901–1988).

Von seiner Kindheit als Sohn einer jüdischen Familie, die in der Nähe von Czernowitz lebte, berichtet Aharon Appelfeld in seinem Buch «Geschichte eines Lebens». Die Idylle mit Erdbeeren, fahrenden Musikanten, dem Gang in die Synagoge und Aufenthalten beim begüterten und gebildeten Gutsbesitzer Onkel Felix endet dramatisch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Das reiche litera­rische Leben in Czernowitz war vor allem von deutsch sprechenden Juden geprägt.

Aharon ist acht, als die Nazis seine Mutter ermorden. Er kommt nach einem Todesmarsch ins Getto und dann ins Konzentrationslager, überlebt beides, schlägt sich unter widrigsten Umständen durch, gelangt an der Adria in die Obhut der Alliierten und von dort nach Israel.

In der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches

Dieser autobiografische Bericht steht für das Schicksal ungezählter Jüdinnen und Juden in Osteuropa. Die Ukraine war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs eine Sowjetrepublik, wurde 1941 aber von der deutschen Wehrmacht besetzt. Die Juden gerieten in die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches.

Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung erfolgte in der Ukraine durch Massenerschiessungen. Dabei starben zwischen 1,5 und 2 Millionen Juden. Nach dem Krieg kam die Ukraine wieder zur Sowjetunion, seit 1991 ist das Land unabhängig, und in vielen Städten existieren kleine jüdische Gemeinden.

Von der ehemaligen jüdischen Hochblüte in der Ukraine bleiben Berichte, Bücher, ein Musical – und die Erinnerung an zahlreiche tragische Schicksale.