Recherche 01. Juni 2021, von Felix Reich

Für Gott und die Freiheit

Geschichte

Sophie Scholl, die am 9. Mai 1921 geboren wurde, gilt als Ikone des Widerstands gegen Hitler. Ein Buch zeichnet jetzt ein differenziertes Bild einer vom Glauben bestimmten Frau.

Sie ist eine Märtyrerin, weil sie für ihren Glauben gestorben ist. Für ihren Glauben an Gott, dessen Autorität sie über die Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes stellte. Und für ihren Freiheitsdrang, der sie mit gesellschaftlichen und religiösen Konventionen ringen liess.

Der Nationalsozialismus schränkt die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise ein, die meinem inneren Wesen widerspricht.
Sophie Scholl im Verhör

Am 22. Februar 1943 wurde Sophie Scholl zusammen ihrem Bruder Hans und Christoph Probst zum Tod verurteilt. Noch am selben Tag fiel im Gefängnis München Stadelheim das Fallbeil dreimal.

Auf dem Weg zur Legende

Sophie Scholl (1921–1943) hatte sich gut ein Jahr zuvor der Widerstandsgruppe um ihren Bruder angeschlossen. Auf Flugblättern riefen die Studierenden das deutsche Volk zum Sturz des im Russlandfeldzug feststeckenden Hitler-Regimes auf. Sie wolle mit dem Nationalsozialismus «nichts zu tun haben», weil durch die Ideologie «die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt wird, die meinem inneren Wesen widerspricht», erklärte Sophie Scholl noch im Verhör.

Während Mitglieder der Weissen Rose nach dem Weltkrieg in der Bundesrepublik als Naivlinge galten, wurden die Geschwister Scholl trotz ihrer bürgerlichen Herkunft in der DDR als antifaschistische Sozialisten vereinnahmt. Später begann im Westen die Legendenbildung. Der Fokus richtete sich auf Sophie Scholl, die zur «schmiegsamen, säkularen Konsensheiligen» verklärt wurde.

So schreibt es Robert Zoske. Der evangelische Theologe und Historiker hat ein Buch über Scholl publiziert und tritt an, den Mythos mit historischen Fakten zu kontern und Scholl «im neuen Licht» erscheinen zu lassen.

Sophie Scholl wurde zur schmiegsamen, säkularen Konsensheiligen verklärt.
Robert Zoske, Historiker und Theologe

Dafür zitiert er aus den Tagebüchern und Briefen von Sophie Scholl und arbeitet sich insbesondere an der Version von Inge Scholl ab. Sie wollte die Deutungshoheit über die Biografien ihrer Geschwister und behauptet, bereits als Kind habe Sophie Ideologien abgelehnt.

Die Bibel bleibt ihr Kompass

Zoske erzählt eine andere Geschichte. Sophie Scholl habe begeistert in der Hitlerjugend mitgemacht und sei wie viele Jugendliche empfänglich gewesen für die Aufbruchstimmung, welche die Nazis anfangs verbreiteten. Scholls Weg in den Widerstand erscheint bei Zoske als langsame Entfremdung.

Ihr Kompass war das Evangelium. Vom Pietismus der Mutter und dem Kulturprotestantismus des Vaters geprägt, bewahrte sie sich Mitleid und Barmherzigkeit, die Jesus predigte und lebte. Ihr Glaube bewahrte sie davor, im Krieg abzustumpfen und die brutale Gewalt zu legitimieren.

Deutlich wird diese Haltung in Briefen an Fritz Hartnagel, der an die Ostfront geschickt wurde und sich bis zum Hauptmann hochdiente. Im Herbst 1942 eignete sie sich einen Text des Apostels Paulus an und setzte der «Welt des Fleisches», wo ein tödlicher Verdrängungswettkampf tobt, die «Welt des Geistes» gegenüber, die mit der Logik der Gewalt bricht: «Ja wir glauben an den Sieg der Stärkeren, aber der Stärkeren im Geiste», schrieb sie an Hartnagel, der von der sozialdarwinistischen Argumentation seiner Dienstkameraden berichtet hatte.

Wir glauben an den Sieg der Stärkeren, aber der Stärkeren im Geiste.
Sophie Scholl im Herbst 1942

Dem Verhältnis zwischen Sophie Scholl und ihrem um vier Jahre älteren Geliebten räumt Zoske viel Platz ein. Seine Interpretation wirkt zuweilen fast ein bisschen übergriffig, wenn er munter aus Tagebüchern zitiert. Dass Selbstzweifel, Ansprüche und Sehnsüchte die Verwertbarkeit dieser Textsorte für ein historisch fundiertes Porträt schmälern, scheint er nicht in Betracht zu ziehen. Doch wenn Scholl als 16-Jährige über Nähe und Distanz, Liebe und Sexualität schreibt, spielt es für die Einordnung eine Rolle, ob es sich um intime Tagebucheinträge handelt oder Briefe an Hartnagel oder die beste Freundin.

Tatsächlich eine Heilige

Ein Gewinn bleibt das hervorragend recherchierte und dokumentierte, gut lesbare Buch von Zoske dennoch. Es erhellt, wie Scholl im Gebet Halt findet und an ihrem Gottvertrauen zweifelt, die christlichen Werte verteidigt und sich moralisch überfordert, mit Empathie gesegnet ist und sich nach Einsamkeit und Unabhängigkeit sehnt.

Ihre Liebe zur Freiheit und zu Gott, die sie in den Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime führte, macht Sophie Scholl tatsächlich zu einer Heiligen, die in der Nachfolge Christi stand und bis heute Menschen inspirieren kann.

Ein erhellendes Buch

Mit «Sophie Scholl. Es reut mich nichts» (Berlin, 2020) hat Robert M. Zoske ein aufschlussreiches Buch über Sophie Scholl vorgelegt. Der Theologe und Historiker recherchiert schon viele Jahre zur Widerstandsgruppe die Weisse Rose. Obwohl zuweilen eine einfühlsame Einordnung der Quellen fehlt, so zeichnet er in seinem 442 Seiten starken Buch dank des Studiums von Prozessakten, Briefen und Tagebüchern von Sophie Scholl ein facettenreiches Bild der Ikone des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.