In der historischen Aufarbeitung des Holocaust ist die Ukraine ein blinder Fleck. Warum?
Frank Golczewski: Die Region verschwand hinter dem Eisernen Vorhang. Zwar bildete die Sowjetunion während des Krieges Sonderkommissionen, um Verluste in der Zivilbevölkerung zu dokumentieren. Es gibt also Protokolle und Interviews mit Überlebenden, die auch Rückschlüsse auf das Ausmass der Judenvernichtung zulassen. Doch ab 1946 erfassten die Sowjets Juden nicht mehr als Opferkategorie.
Die georgische Autorin Nino Haratischwili lässt im Roman «Das achte Leben» eine Figur sagen: «Hitler hat uns auf Stalin vorbereitet.» Gilt der Satz auch für die Ukraine?
In der Ukraine hatten die Menschen bereits vor dem Angriff der Nazis unter Stalin gelitten. Der Massenmord begann 1932 mit dem künstlichen Hunger. Trotz zweier Missernten erhöhten die sowjetischen Parteikader die Abgabenquoten für die Bauern. Während die Bevölkerung am Hunger starb, wurde Getreide exportiert. Nach dem Krieg richtete sich der stalinistische Terror gegen alle, die in irgendeinem Kontakt mit dem Westen standen.
Wie war die Situation der Juden?
Auch da spielte der Kalte Krieg eine zentrale Rolle. Die Sowjetunion förderte die Gründung eines jüdischen Staates. Sie war 1948 der erste Staat, der Israel anerkannte. Doch schon als im gleichen Jahr Israels Botschafterin in der Moskauer Synagoge begeistert empfangen wurde,
änderte sich die Perspektive der sozialistischen Führung auf das Judentum schlagartig. Sie fürchtete um die Loyalität der Juden.
Die klassische Angst vor der doppelten Identität, die in vielen Grossreichen in Repression umschlägt?
Genau. Schon Bismarck hatte Angst vor den Katholiken, weil ihre Autorität in Rom sass. Auch in China sieht man das. Die dortige Führung fürchtet, dass Christen und mehr noch die muslimischen Uiguren die nationale Einheit gefährden.