Schwerpunkt 29. April 2020, von Delf Bucher

Im KZ war Albert Mülli nur noch Nr. 29331

75 Jahre danach

Das System der Konzentrationslager soll mehr als ein Kapitel im Geschichtsbuch bleiben: Ein Besuch mit Abschlussklassen der Sekundar­stufe Affeltrangen TG im ehemaligen KZ Dachau.

«Glaubt es!», telegrafierte die Kriegsfotografin Lee Miller an die New Yorker Redaktion der «Vogue», um ihre Fotoreportage aus dem KZ Dachau anzukündigen. Der Horror, den sie am 30. April 1945, einen Tag nach der Befreiung des Konzentrationslagers, fotografierte, überstieg die Vorstellungskraft der Menschen in den vom Krieg verschonten USA. Lee Miller drückte auf den Auslöser, als Häftlinge ihre toten Leidensgenossen, mehr Skelett als menschliche Körper, auf einen Lastwagen stapelten. Sie dokumentierte die Sex-Zwangsarbeiterinnen des KZ-Bordells ebenso wie die Leiche ­eines SS-Mannes im Wassergraben, den US-Soldaten, von der angetroffenen Grausamkeit überwältigt, in Rachejustiz hingerichtet hatten.

Schüler im Schreckensreich

Ende Februar 2020, somit knapp 75 Jahre nach Kriegsende, versammeln sich drei Abschlussklassen der Sekundarschule Affeltrangen TG morgens um 6 Uhr, besteigen den Bus und erreichen nach vier Stunden Fahrt die KZ-Gedenkstätte Dachau bei München. Sie gehen durch das Lagertor mit der zynischen Aufschrift «Arbeit macht frei», durch das zwischen März 1933 und April 1945 insgesamt 200'000 Menschen geschritten sind. Mehr als 40'000 von ihnen sind nie mehr aus dem Lager zurück in die Freiheit gelangt. Viele von ihnen wurden im Krematorium verbrannt.

In den Apriltagen 1945, als der Kriegslärm täglich lauter zu hören war, fehlte das Holz, um das Krematorium zu betreiben. So wurden die Leichen, wie Klaus Schultz in seinem weichen bayrischen Dialekt erzählt, zu Hunderten vor der Anlage deponiert. Schultz ist Diakon der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem KZ-Gelände. Mit seiner rundlichen Figur und seinem dichten Schnauz strahlt er Ruhe aus.

Indes schwingt bei ihm auch nach 23 Berufsjahren als Erklärer der Schrecken des KZ-Systems immer noch Betroffenheit mit. Ganz so, als würde er zum ersten Mal Sätze aussprechen wie: «Ich versuche euch nun von einem Ort zu erzählen, von dem man eigentlich nicht erzählen kann, weil das, was hier geschehen ist, unvorstellbar ist.»

Eine Notlüge rettet Naor

Es ist mucksmäuschenstill, während Klaus Schultz vor dem Krematorium vom Tag der Befreiung erzählt. Viele der befreiten KZ-Insassen seien noch Tage und Wochen danach gestorben. Denn Hunger, auszehrende Zwangsarbeit und Krankheiten wie Typhus liessen viele der ausgemergelten Gestalten nicht mehr auf die Beine kommen.

Auch nach 23 Jahren Erinnerungsarbeit und Tausenden von Schülern, die er in dieser Zeit durchs Lager geführt hat, bleibt Klaus Schultz davor bewahrt, im Leierton die immer gleichen Geschichten zu erzählen. Denn er will berühren, will die Jugendlichen mit konkreten Schicksalen konfrontieren, die sich mit den Erfahrungen der jungen Leute verbinden lassen.

So erzählt er zum Beispiel von dem jungen Litauer Abba Naor. «Der war in eurem Alter», sagt Schultz. 14 Jahre alt sei er gewesen, als er diesen Ort des Terrors betrat. Lebensrettend für Naor war eine Notlüge. Statt sein wahres Alter anzugeben, das ihn als «arbeitsunfähig» auf einen Transport in ein Vernichtungslager gebracht hätte, rettete er sein Leben, indem er sich als 16-Jähriger ausgab.

Ein Schweizer Schicksal

Wenn sich eine Schülergruppe anmeldet, konsultiert Schultz jeweils das Register der Dachau-Häftlinge. 53 Schweizer hat er gefunden. 53 Menschen, die in dem Konzentrationlager inhaftiert waren, in drangvoller Enge hungerten, verprügelt wurden und von Schwerarbeit gezeichnet auf ihre Entlassung warteten. «1942 ist da ein Schweizer namens Albert Mülli eingetragen», so Schultz. «Leider weiss ich nicht, ob er überlebt hat.»

Im Buch «Schweizer KZ-Häftlinge»* wird das Schicksal des 22-jährigen arbeitslosen Sozialdemokraten Albert Mülli nachgezeichnet. Unwissend reiste er 1938 mit einem Kurierauftrag nach Wien. In dem von ihm transportierten Koffer fand die Gestapo kommunistische Propaganda. Er wurde zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt und kam 1942 nach Haftablauf nach Dachau.

Die Proteste der Schweizer Gesandtschaft fielen lau aus. Der Verdacht, es mit einem Kommunisten zu tun zu haben, liess jedes diplomatische Eingreifen erlahmen und brachte nach dem Krieg die politische Polizei in der Schweiz auf den Plan. Sie bespitzelte Mülli, wenn er von Dachau berichtete. In seiner Fichenakte, die bis in die 1960er-Jahre geführt wurde, erzählte Mülli das Gleiche, was auch Klaus Schultz den Schülern erklärt: Wie er beim Eintreten ins KZ mit Fusstritten und Ohrfeigen empfangen wurde, wie sein ganzer Körper rasiert wurde, wie er mit Entlausungsmittel desinfiziert und schliesslich in die blauweisse Zebrakleidung gesteckt wurde. «Von Anfang an beraubte man die Häftlinge ihrer Würde. Mit dem Eintritt ins KZ hat jeder seinen Namen verloren und wurde nur mit einer Nummer aufgerufen», berichtet Klaus Schultz.

Albert  Mülli hatte die Nummer 29331 und als politischer Gefangener einen roten Winkel aufgenäht. «Was denkt ihr, was sonst noch für Gruppen von Gefangenen nach Dachau kamen?», fragt Schultz. Juden, lautet die Antwort der Schüler. Homosexuelle werden noch genannt, und Schultz ergänzt die Liste der von den Nazis Verfolgten: Pfarrer, Bibelforscher, Sinti und Roma, weiter sogenannte Asoziale und Kriegsgefangene aus ganz Europa. Für jede Kategorie der Insassen gab es ein Symbol. Alle wurden nummeriert. Akribische Ordnung herrschte in diesem 18 Hektaren grossen Reich des Schreckens.

Über dem Appellplatz weht ein kalter Wind. Schultz erzählt, wie er vor drei Jahren an einem eisigen Februartag mit Abba Naor über den Platz ging und der Holocaust-Überlebende, eingehüllt in warme Winterkleider, sagte: «Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich damals diese Kälte ausgehalten habe.»

Der Hüter der Zeugnisse

Nebst Abba Naor hat Schultz viele andere Überlebende getroffen. Er ist ein «Zeuge der Zeugen». Denn nur wenige ehemalige Lagerinsassen leben noch und können von ­ihren Erlebnissen berichten. Schultz trägt ihr Zeugnis weiter. Er erzählt von den Schrecknissen, die sich auf dem Appellplatz zugetragen haben, wenn abends nach dem Zählappell der SS-Mann in bürokratischer Akribie die Zahl der Toten unter der Rubrik «Abgänge» notierte.

Vor allem gegen Ende des Krieges war das Sterben allgegenwärtig. Je mehr Polen, Russen und Juden ins Lager kamen, desto brutaler wurden die Fantasien der SS-Männer, um die Entmenschlichung voranzutreiben. Ein Lagerinsasse notierte später: «Selbst eine tote Katze auf der Strasse hätte wahrscheinlich mehr Mitgefühl ausgelöst als die Menschen, die auf dem KZ-Gelände am Sterben waren.»

Gestorben wurde auf viele Arten. Mit gebundenen Händen wurden Insassen an ein Seil gehängt. Stundenlang hingen sie in der Luft, überspannte sich ihr Körper, auf den die SS-Schergen eindroschen. Auch in der Krankenabteilung ging der Tod um, wo Menschen Unterkühlungsversuchen ausgesetzt, mit Malaria infiziert oder in der Druckkammer zu Tode gequält wurden.

Freiwillige Folterknechte

In die aufgewühlten Gesichter der Schüler hinein sagt Schultz: «Die SS-Leute haben das freiwillig gemacht. Es ist eine Schutzbehauptung, dass sie dies unter Zwang tun mussten.» Ein Schüler fragt später im Bus auf der Heimfahrt: «Was die SS-Männer wohl zu Hause ihren Familien erzählt haben?» Ein anderer ist sich sicher: «Das kann sich in Europa nicht wiederholen.» Bald wollen sich die Jugendlichen von den Erlebnissen des Besuchs in der KZ-Gedenkstätte ablenken. Es wird gegamt, gechattet und geplaudert nach diesem verstörenden Tag.

Auch die Fotografin Lee Miller schien sich am Abend des 30. April 1945 mit einer künstlerisch inszenierten Performance Blut und Dreck vom KZ Dachau buchstäblich abwaschen zu wollen. Sie legte sich in der Münchner Wohnung von Adolf Hitler in dessen Badewanne und liess sich nackt von ­ihrem Kollegen fotografieren. Eine coole Pose, doch Alkoholismus und Depressionen sollten sie ihr weiteres Leben begleiten – nicht zuletzt auch wegen ihrer Kriegserlebnisse.

Den einstigen Häftling Alfred Mülli verfolgte das KZ ebenso bis zu seinem Tod 1997. Als Demenzkranker rief er immer wieder, als würde er zum Appell antreten, im zackigen Ton seine KZ-Nummer: «29331!»

*Literaturhinweis: B. Spörri, R. Staubli, B. Tuchschmid: Schweizer KZ-Häftlinge. NZZ Libro, 2019, 320 Seiten, Fr. 48.–.