Schwerpunkt 25. August 2022, von Cornelia Krause, Mitarbeit: Wadim Kolotuschkin

Als Sechsjährige im Czernowitzer Getto

Holocaustüberlebende aus der Ukraine

Hunger, Krankheiten, Erschiessungen: Klara Kaz erinnert sich an die Lager für Juden in Transnistrien. Sie verlor dort zahlreiche Familienangehörige.

Sie ist geblieben. Klara Kaz, kurze graue Haare, weisses T-Shirt, sitzt im Wohnzimmer ihrer Wohnung in Czernowitz. Auf dem Tisch stehen ein Teeservice und Gebäck für den Übersetzer. Vier Monate zuvor hat die russische Armee die Ukraine überfallen. Czernowitz, im Westen des Landes, ist seitdem ein Hort für Menschen auf der Flucht. Menschen, die sich vor den Kämpfen im Osten in Sicherheit bringen, vor Bomben auf Kiew, Charkiw, Odessa. Es ist der zweite Krieg im Leben von Klara Kaz.

Über Videoschaltung erzählt sie vom ersten: Sechs Jahre war sie alt, ein Kind von vieren. Acht Tage bevor der Krieg nach Czernowitz kam, hatte die Mutter noch einen Sohn zur Welt gebracht. «Ich erinnere mich ans Geräusch einschlagender Granaten. Eine Mühle brannte, und meine Mutter rief: ‹Krieg, es ist Krieg!› Dann kamen sie in die Stadt, erst die deutschen Truppen, dann die Rumänen.»

Ins Getto verbannt

Klara Kaz ist heute 87 Jahre alt, sie ist eine der letzten jüdischen Holocaustüberlebenden, die sich ans Getto in ihrer Heimatstadt erinnern. Vor zwei Jahren ging sie noch einmal durch die Gassen, die Soldaten einst mit Stacheldraht vom Rest der Stadt abgetrennt hatten. Sie zeigte die alten Häuser einer Filmcrew für eine Dokumentation.

Wer stolperte oder hinfiel, wurde erschossen.
Klara Kaz, Holocaustüberlebende

Als ihre Familie 1941 ins Getto gebracht wurde, hatten die Eltern nur das Nötigste mitnehmen können: Windeln und Unterwäsche für die Kinder und den Säugling. «Meine Mutter trug das Neugeborene auf dem Arm, der Grossvater meinen Bruder Jaschenka, den er sehr liebte. Ich konnte allein laufen, wollte aber die Hand eines Erwachsenen halten», erinnert sie sich.

Zu neunt in einem Zimmer gelebt

Am Tag, an dem die Soldaten die jüdischen Bürger zusammentrieben, regnete es in Strömen. Eine Bekannte entdeckte die Familie in der Menge. Sie hatte schon vor dem Krieg in einer jener Strassen gewohnt und nahm die Familie Kaz zu sich. Zu neunt lebten sie fortan in einem Zimmer: die Eltern und Geschwister, der Grossvater, eine Tante und deren Tochter.

Klara Kaz holt ein Bild aus dem Regal und hält es in die Kamera. Eine Künstlerin hat es gezeichnet, in dunklen Farben, Blau, Braun, Grau. Es zeigt die Familie Kaz nachts auf der Flucht. Denn das Getto war nur ihre erste Station. Wie lange die Familie dort blieb, weiss Klara Kaz nicht mehr. «Irgendwann kamen Soldaten, und wir mussten uns in Kolonnen aufstellen. Sie brachten uns zum Bahnhof.» Der Weg: ein Todesmarsch. «Wer stolperte oder hinfiel, wurde erschossen», sagt sie mit Tränen in den Augen.

Im Viehwaggon in ein Lager

Am Bahnhof standen Viehwaggons bereit, der Platz auf dem Boden war knapp. Ein Eklat kostete den Vater fast das Leben. Er bat eine Frau mit mehreren Taschen darum, mehr Platz für seine Familie zu machen. «Die Frau war ausser sich, fing an zu schreien. Daraufhin zerrten rumänischen Soldaten meinen Vater aus dem Waggon, traten ihn mit Kolben, Stiefeln, Fäusten.» Zwei deutsche Soldaten griffen ein. «Sie sagten: ‹Erschiesst ihn oder lasst ihn gehen!›» Sie liessen von ihm ab. Die Mitreisenden versorgten die Wunden des Vaters mit nassen Tüchern. Die Reise ins Ungewisse begann.

Mein Vater sagte, der Boden habe sich angehoben, da es Menschen gab, die lebend begraben worden waren.
Klara Kaz, Holocaustüberlebende

Sie führte in die Region Winny­z­ja am Fluss Südlicher Bug. Heute erinnert dort wenig an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Die Stadt Winnyzja arbeitet eng mit Zürich zusammen, die ausrangierten ZVV-Karpfen-Trams drehen dort ihre Runden. Während des Zweiten Weltkriegs aber trieben 40 Kilometer südlich von Winnyzja die mit den Deutschen verbündeten Rumänen die Juden im Dorf Petschera zusammen. Die Bedingungen dort seien überaus schlimm gewesen, erinnert sich Klara Kaz. «Bei jedem kleinsten Verstoss gegen Regeln wurde man erschossen.»

Eines Tages mussten sich alle Lagerbewohner aufstellen, die Familie Kaz stand in der elften Reihe. Die Wachmänner hätten die Menschen der ersten zehn Reihen aus dem Lager begleitet, sagt Klara Kaz. «Dann hörten wir die Schüsse. Sie hämmerten bis in den Abend hinein.» In der Nacht habe ihr Vater das Massengrab gesucht. «Er sagte, der Boden habe sich dort angehoben, da es Menschen gab, die lebend begraben worden waren.» Der Vater fand einen Jungen, etwa elfjährig, der unversehrt aus dem Grab herausgekrochen war. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er solle sich tot stellen, und ihn in die Grube gestossen, ihr Leichnam rettete das Kind.

Keine Rettung für das Baby

Anders als in deutschen Konzentrationslagern pflegten die Häftlinge Kontakte nach draussen und arbeiteten für Einheimische – gegen Kartoffeln, Karotten, Brot. Klara Kaz’ Vater gelang es, dem Jungen einen Unterschlupf im Dorf zu vermitteln. In Petschera musste auch die Familie Kaz Verluste erleiden: Der jüngste Sohn überlebte das Lager nicht. Die Familie war in einem Schulgebäude untergebracht, dem Fenster und Türen fehlten. Der Säugling erkrankte an Lungenentzündung, er schrie und wimmerte viel. «Er schwebte zwischen Leben und Tod. Da nahmen ihn Soldaten weg und warfen ihn in ein Loch», sagt Klara Kaz. Mit der Hand wischt sie sich Tränen aus den Augen.

Wieder hält sie das Bild ihrer Familie in die Kamera, deutet auf die Menschen, die das Lager nicht überlebt haben. «Das Baby, mein Grossvater, mein kleiner Bruder und meine Tante.» Krankheiten wie Typhus und Fleckfieber waren in den Lagern verbreitet. Hinzu kam der Hunger. Erst in Mohyliw-Podilskyj, dem letzten mehrerer transnistrischer Lager, die die Familie Kaz durchlaufen musste, besserte sich die Situation. «Hier gab es wenigstens täglich etwas zu essen.»

Es sollte nicht der Eindruck entste­hen, eine Gruppe der Bevölkerung habe mehr gelitten als eine andere.
Klara Kaz, Holocaustüberlebende

An die Befreiung des Lagers 1944 kann sich Klara Kaz gut erinnern. Es hatte sich herumgesprochen, dass die sowjetischen Truppen vorrückten. Die Familie versteckte sich in einem Keller, um nicht noch von den bedrängten Besatzern erschossen zu werden. «Es war feucht, dunkel und kalt. Plötzlich ging die Tür auf. Wir Kinder fingen an zu weinen. Aber die Soldaten riefen: ‹Habt keine Angst! Wir sind sowjetische Soldaten.›» Einer sei die Treppe heruntergestiegen. Klara Kaz erinnert sich an seinen Umhang mit dem roten Stern, dessen Saum im Luftzug flatterte. «Wir rannten alle zu ihm, umarmten und küssten ihn», erzählt sie und lächelt.

Schwieriges Gedenken

Nach der Befreiung kehrte die Familie zu Fuss nach Czernowitz zurück. Während der Nachkriegsjahre sei der Holocaust öffentlich nicht thematisiert worden, führt Klara Kaz aus. Der Grund: Alle Nationalitäten sollten zu einer sozialistischen Gesellschaft zusammengeschweisst werden. «Dabei sollte nicht der Eindruck entstehen, dass eine Bevölkerungsgruppe mehr gelitten habe als eine andere.»

Die Eltern bekamen drei weitere Kinder. Die Familie bemühte sich, ihrer Toten zu gedenken, doch es war schwierig. Einmal reisten sie an die Orte der Lager zurück. Doch ihre Kerzen konnten sie nur an Massengräbern aufstellen. Die genauen Todestage kannten sie nicht. «Wir hatten keinen Kalender im Lager. Oft wusste wir nur, in welchem Monat sie gestorben waren», sagt Klara Kaz und schweigt. 

Keine Partei profitiert vom Krieg

Ans Nachkriegsleben erinnert sie sich gern. Sie konnte studieren. Während der Vater noch in die Synagoge ging, integrierten sich die Kinder vollständig in die atheistische Sowjetgesellschaft. Klara Kaz wurde Lehrerin, jahrzehntelang unterrichtete sie Kinder in ukrainischer und russischer Literatur.

Eigene Kinder hat sie nicht. Seit vor einigen Jahren ihr Bruder starb, ist sie in Czernowitz allein. Die drei jüngeren Geschwister emigrierten in den 90er-Jahren nach Israel. Der Krieg in der Ukraine wecke Erinnerungen, sagt Klara Kaz. «Er bringt mich zum Weinen.» Keine Partei werde von ihm profitieren, ist sie überzeugt. Zweimal boten ihr jüdische Organisationen als Holocaustüberlebende eine Evakuierung ins Ausland an. Trotz der ungewissen Zukunft lehnte sie ab. «Das hier ist meine Heimat. Und was kommt, das kommt.»