«Wir haben nicht lange überlegt.»

Flucht

Thomas Böhlke, Leiter eines Berliner Altenzentrums, beherbergt seit Kriegsbeginn ukrainische Holocaust-Überlebende.

In ihrem Altenzentrum wohnen zwölf Holocaust-Überlebende aus der Ukraine. Wie ist es dazu gekommen?

Das ging extrem schnell. Ende März gab es einen Aufruf der Jewish Claims Conference (JCC) und der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden an Altersheime in Deutschland, sich zu melden, wenn Kapazitäten vorhanden sind. Unser Haus eröffnete 2020 kurz vor der Pandemie, wir waren noch nicht ausgelastet. Da haben wir nicht lange überlegt und uns gemeldet. Ich finde wir haben in Deutschland eine hohe Verantwortung gegenüber den Holocaust-Überlebenden und müssen unser Bestes tun. Und nur zwei, drei Tage später kamen die ersten jüdischen Gäste an, teils mit Angehörigen und gar einer Katze.

Wie wurden die Menschen zu Ihnen gebracht?

Die Jewish Claims Conference kannte die Holocaust-Überlebenden bereits, weil sie sich schon in der Ukraine vor Ort ambulant um sie gekümmert hat, ihnen etwa Pflegepersonal organisiert hat. Seit Kriegsbeginn evakuiert sie nun die Holocaust-Überlebenden auf verschiedene Länder. Erst wenn eine Unterbringung zugesichert ist, wird die Reise angetreten. Das ist sinnvoll, denn die Holocaust-Überlebenden sind in hohem Alter, oft gebrechlich. Da ist eine reibungslose Reise entscheidend. In der Regel werden sie in Krankenwagen transportiert, ukrainische Fahrer bringen sie an die Grenze zu Polen, dort holt sie das Deutsche Rote Kreuz ab. In Berlin kommen sie meist spät in der Nacht an.

Wie haben sich ihre ukrainischen Gäste hier eingelebt?

In der Regel sehr gut. Viele sind technologieaffiner als unsere deutschen Gäste. Sie fragen als erstes nach deutschen SIM-Karten und Wlan, um in Kontakt mit Freunden und Verwandten bleiben zu können. Sie schätzen auch die Gemeinschaft untereinander und unser Pflegepersonal. Wir haben fünf russischsprachige Pflegepersonen, das ist wirklich ein Glück. So ist immer jemand da, der sie versteht und weiterhelfen kann.

Wir haben in Deutschland eine hohe Verantwortung gegenüber den Holocaust-Überlebenden und müssen unser Bestes tun.
Thomas Böhlke, Leiter des Altenzentrums «Erfülltes Leben» in Berlin

Das heisst?

Wir bemühen uns, den ukrainischen Gästen ein möglichst angenehmes Leben zu ermöglichen. Sie haben zu Beginn Ihres Lebens so viel schlimmes erlebt und jetzt wieder. Da braucht es besonders viel Empathie.

Bemerken Sie eine Retraumatisierung bei den Menschen, weil sie schlimme Erfahrungen erneut durchmachen?

Im Alltag merkt man das eher nicht, sie sind sehr gefasst, Aber wenn sie von Journalisten darauf angesprochen werden, dann kommt das schon zum Vorschein. Zudem sorgen sie sich oft um Angehörige. Zu Beginn hofften viele auch, dass sie bald wieder zurückkehren können. Wir wünschen Ihnen natürlich sehr, dass sie ihre Heimat wieder sehen. Aber derzeit sieht es nicht so aus, als ob das bald der Fall sein wird. 

Wie lange können die Holocaust-Überlebenden bleiben?

Eine langfristige Unterbringung ist für uns möglich, das mussten wir auch der JCC zusichern. Es würde auch schwierig werden, unsere Gäste anderswo unterzubringen, ein selbstständiges Leben können sie nicht führen. Sie brauchen sprachliche und organisatorische Unterstützung. Hier haben sie auch noch die jüdische Gemeinde. Sie kümmert sich, besucht die Menschen, arbeitet eng mit uns zusammen. Die JCC achtet darauf, dass die Holocaust-Überlebenden jeweils Anschluss an eine jüdische Gemeinde haben. Das gibt es nicht in deutschen Dörfern, darum kommen die meisten in Städte wie Berlin, Frankfurt oder München.

Heimleiter und Geschäftsführer

Thomas Böhlke ist Leiter des Altenzentrums «Erfülltes Leben» in Berlin. Das Altenzentrum umfasst mehrere Einrichtungen für betagte Menschen. Die ukrainischen Holocaust-Überlebenden sind in der Tages- und Nachtpflegeeinrichtung «El Jana» untergebracht. Gesellschafter des Altenzentrums sind die Volkssolidarität und der Paritätische Wohlfahrtsverband.