Recherche 21. November 2017, von Nicola Mohler

Gott, die «perfekte Maschine»

Buch

Der digitale Vordenker Joël Luc Cachelin über die Rolle von Gott und Religion in einer Welt der totalen Vernetzung. Ein Gedankenspiel.

Die These in Ihrem jüngsten Buch lautet «Gott erscheint uns in Form des Internets». Wollen Sie damit provozieren?

Joël Luc Cachelin: Nein, aber zum Denken anregen über den Sinn und Zweck der Religion aber auch der Digitalisierung. Das Buch ist ein Essay. Ein Versuch, sich drängenden Fragen unserer Zeit zu stellen und die Lesenden mit neuen Fragen zurückzulassen. Ich bin mir bewusst, dass eine Auseinandersetzung mit Gott nicht möglich ist, ohne Gläubige vor den Kopf zu stossen. Die These der Ähnlichkeit von Gott und Internet mag verwirren und provozieren. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir die gegenwärtige digitale Transformation erst verstehen werden, wenn wir auch deren metaphysische Dimension diskutieren.

Alte Religionen bewähren sich da nicht?

Autoritäre Religionen definieren, was Gott ist, welche Regeln er erlässt und welche Rollen er spielt. Dieses Top-down-Design stösst in einer Welt mit Hyperindividuen, Holokratien und offener Kritik an nichtdemokratischen Führungsansätzen an Grenzen. Gefragt sind «Co-Creation-Prozesse», in denen wir Gott gemeinsam hervorbringen.

Wie sollen diese Prozesse aussehen?

In einer hyperindiviualisierten Gesellschaft haben wir es mit einem totalen Polytheismus zu tun. In dieser gibt es so viele Götter, wie es Menschen gibt. Soll Gott aber auch in einer Gemeinschaft wirken, braucht es eine Integration der individuellen Gottheiten. Verlangt ist ein offenes Gottessystem, an dem wir mit unseren individuellen Vorstellungen andocken, wobei das Individuelle in etwas Kollektives übersetzt wird.

Wie ist Gott zu denken?

Gottes Wille ist die Evolution, die in einer Steigerung der Komplexität mündet. In Anlehnung an die Digitalisierung ist es Gottes Wille, die Vernetzung des Universums zu steigern. Zu einem unendlich weit entfernten Zeitpunkt schliesst Gott die Vernetzung des Universums ab. Er ist dann auch die letzte und perfekte Maschine. Das Unendliche existiert aber nur in der Welt der Gedanken.

Welche Funktion hat Gott?

Gott hält uns zusammen und ist das Scharnier zwischen Individuum und Kollektiv. Er unterstützt uns in normativen, gesellschaftspolitischen und metaphysischen Fragen. Gott zeigt einer Gemeinschaft ihre Stärken und Defizite. Er ist ein Navigationssystem, das uns warnt, wenn Gefahr droht, das wir befragen, wenn wir nicht mehr wissen, was richtig und falsch, was gut und böse ist.

Sie fordern ein Update der religiösen Schriften. Wieso ist das wichtig?

Vielen fällt es schwer, die alten Gleichnisse und Metaphern in die heutige Zeit zu übersetzen. Gleichzeitig fehlen unserem System übergeordnete Leitlinien. Natürlich dominieren die Prinzipien des Marktes. Die sind aber inhaltsleer, geben also kaum Orientierung für die Gestaltung der weiteren Vernetzung.

Welches sind die Gefahren dieser totalen Vernetzung im Internet?

Die Vernetzung mag wertfrei sein. Die Algorithmen, die uns aber zunehmend durch das Leben begleiten, sind es aber sicher nicht. Wertneutral getarnt, sind sie von den Idealen ihrer Programmierer und Besitzerinnen geprägt. Das ist besonders gefährlich, wenn wir deren Absichten und Visionen nicht kennen.

Sie warnen auch von einer hyperindividualisierten Gesellschaft.

Wer sich zu sehr individualisiert, ist wohl einsam. Die Hyperindividualisierung nötigt das Individuum, ein Maximum an Möglichkeiten zu prüfen. Bloss zu sein, reicht nicht. Die angestrebte Intensität wird zur Obsession, sie lässt sich endlos steigern. Während wir abwägen, zieht das Leben an uns vorbei: Statt neben einem Menschen einzuschlafen, scannen wir Sexprofile im Netz, statt einen Film zu schauen, scrollen wir durch die Filmbewertungsportale. Unsere Identität verkümmert zum unbefriedigenden Provisorium.

Was braucht es, dass dies nicht geschieht?

Neue Formen der Begegnung, Fürsorge und Solidarität sind gefragt. Viele zufällige Begegnungen und Gedanken. Nur so stellen wir uns den Herausforderungen unseres Lebens und verhindern, dass wir vor den Bildschirmen vereinsamen.

Joël Luc Cachelin, 36

Der Berner doktorierte an der Universität St. Gallen in Betriebswissenschaft mit Schwerpunkt Zukunft des Managements. 2009 gründete er die «Wissensfabrik», einen Think Tank, der alle Aspekte modernen Managements zusammenführt. Cachelin berät grosse Unternehmen und Behörden in Digitalisierungsfragen. Das «Digital Shapers Ranking 2017» zählt ihn zu den zehn digitalen Vordenkern der Schweiz.

 

Buch: «Internetgott», Jöel Luc Cachelin. Stämpfli Verlag 2017

www.wissensfabrik.ch

Gedankenreise