Schwerpunkt 27. September 2017, von Susanne Wenger

Pflegerin Jenny ist auch eine Jukebox

Robotik

Jenny kann Verpflegung und auf Wunsch auch Musik servieren. Für sein Praktikum in einem deutschen Pflegeheim hat der Roboter gute Noten erhalten.

Pflegehilfe Jenny hat selbständig einen Becher Wasser vom Spender geholt. Flink ist sie nicht gerade, dafür gleichbleibend freundlich. Nun spricht sie eine Heimbewohnerin an, beugt sich dazu leicht vor: «Sie möchten bestimmt etwas trinken, Frau Schmitt.» Diese antwortet belustigt: «Da hast du recht.» Sie nimmt den Becher und prostet Jenny zu.

Später werden gemeinsam alte Schlager gesungen. «Junge, komm bald wieder», tönt es vielstimmig durch den Raum. Silberhaarige Damen schliessen wehmütig die Augen, andere wiegen sich im Takt der Musik, die Jenny auf Wunsch abspielt. Doch Jenny ist eine Maschine: Assistenzroboter Care-o-bot 3 mit vollem Namen, entwickelt vom Fraunhofer-Institut in Stuttgart.

Nur eine Hilfe. Mannshohes Gehäuse auf Rädern, Greifarm, Tablet, Laser-Scanner, Kamera: Bei Jenny handelt es sich um einen Roboter-Prototypen, der bisher erst für Forschungszwecke in Pflege­heime geschickt wurde. Das Seniorenzentrum Katharinenstift in Wiesbaden – eine evangelische Einrichtung für Menschen mit Demenz – stellte sich für die «Emorobot»-Studie zur Verfügung, die von der Fachhochschule St. Gallen wissenschaftlich mitbegleitet wurde.

Neben Jenny waren über drei Jahre hinweg auch andere Roboter im Einsatz. Pflegefachfrau Edith Mädche war jedesmal dabei. Sie zieht eine positive Bilanz. Die Bewohnerinnen und Bewohner hätten die Robotiksysteme akzeptiert: «Wir waren erstaunt, wie selbstverständlich und spielerisch sie damit umgingen.»

Niemals den Menschen ersetzen. Demenzbetroffene sind besonders verletzlich, deshalb müssen laut Mädche hohe ethische Standards erfüllt sein. Dazu gehört, die Menschen nie zu täuschen und ihr Einverständnis und das ihrer Angehörigen einzuholen.

Einmal ignorierte eine Bewohnerin den Roboter und liess sich ihr Essen lieber vom Pflegepersonal bringen. Ein gezieltes Statement, dem sich die Pflegefachfrau anschliesst: Robotik könne ein Hilfsmittel sein, dürfe aber «niemals den Menschen ersetzen».

Lächelnder Bär. Impulsgeber für die Pflegerobotik ist Japan, wo die Gesellschaft weltweit amstärksten altert. Forscher tüfteln staatlich gefördert an Pflegerobotern. Stolz präsentierten sie neulich «Robear», der Menschen hochheben und herumtragen kann.

Anders als die eher funktional gestalteten deutschen Roboter sieht er aus wie ein lächelnder Bär. Auch «Terapio» hat Augen. Er soll das Zeitalter der teilautomatisierten Pflege in Japans Spitälern einläuten und der Chefärztin auf der Visite folgen, mit Patienten kommunizieren.

Science-Fiction in Japan. «Mensch und Roboter werden zu einer Einheit zusammenwachsen», ist Entwickler RyosukeTasaki von der Technischen UniversitätToyohashi überzeugt. Roboter, die uns waschen und zur Toilette begleiten, wenn wir alt und krank sind – das sei derzeit «pure Fiktion», relativiert Thomas Beer, Pflegewissenschaftler an der Fachhochschule St. Gallen. Man dürfe den Marketingabteilungen nicht alles glauben. Robotik sei technisch noch weit davon entfernt, körperfokussierte Pflegefunktionen über­nehmen zu können.

Beer bezweifelt ohnehin, dass direkt am Menschen arbeitende Roboter je im europäischen Pflegealltag ankommenwerden. Da gebe es kulturelle Unterschiede zu Japan. Dort trägt die Shinto-Religion, in der auch Gegenstände alsbeseelt angesehen werden, zur grösseren Akzeptanz der Roboter bei. Es gibt weniger Ängste, dass mit Pflegerobotern eine menschliche Dienstleistung enthumanisiert wird.

Wege aus der Pflegekrise. Doch wie in Japan steigt auch hierzulande mit dem demografischen Wandel der Pflege­bedarf. Bereits heute haben Schweizer Pflegeheime Mühe, genügend qualifiziertes Personal zu finden: «Wir gehen auf eine Pflegekrise zu», warnt Beer. Bis­herige Studien aus Pflegesicht deuteten auf ein Potenzial hin, Robotik zur sozialen Begleitung einzusetzen. Interaktive Assistenzsysteme wie die singende Jenny könnten Heimbewohnern die Zeit vertreiben und sie mit anderen ins Gespräch bringen, so Beer. Helfe die Robotik, Einsamkeit zu verhindern, trage sie zur Integration älterer Menschen in die Gesellschaft bei.

Die Robotik kann Betagten mehr Autonomie ermöglichen und den Fachkräftemangel lindern. So lautet auch das Fazit einer offiziellen Technologiefolgen-Abschätzung für die Schweiz. Ein Risiko seien jedoch mögliche Kontaktverluste zwischen Pflegepersonal und Patient.

Mehr Zeit den Menschen widmen. Die Zürcher Ethikerin und Theologin Ruth Baumann-Hölzle würde Robotik vor allem dafür einsetzen, das Personal von körperlich anstrengenden oder routinemässigen Aufgaben zu entlasten: «So bleibt mehr Zeit, sich den Menschen zu widmen.»

Robotik dürfe angesichts wachsender Kosten- und Effizienzdrucks aber nicht dazu benützt werden, Personal wegzusparen. Gute Pflege, sagtdie Leiterin des Instituts Dialog Ethik, bedeute einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen, Zuwendung und Fürsorge. Und beides könnten Roboter nicht leisten: «Ein Pflegeheim ist kein Maschinenraum.»