Kirchenfern = glaubensfern. Geht diese Gleichung Ihrer Meinung nach auf?
Thomas Schaufelberger: Überhaupt nicht. Einen Glaubensverlust hat es nicht gegeben. Das zeigen Umfragen zur Spiritualität in vielen westlichen Ländern. Es ist vielleicht so wie mit den Videotheken: Sie verschwanden in den neunziger Jahren, aber die Leute haben trotzdem nicht aufgehört, Filme zu schauen. Sie machen es nur anders.
Nur fehlt im spirituellen Kopfkino der Kirchenfernen Jesus als Hauptdarsteller. Hat die Kirche versagt?
Nein, die Kirche muss nicht alles auf sich nehmen. Das hat viel mit unserer Gesellschaft und dem, was wir als die Krise der Moderne bezeichnen, zu tun. Alle Gewissheiten zerfallen, sagt der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman. Seine Zeitdiagnose umschreibt er mit dem Begriff der «flüssigen Moderne». Es gibt keine chronologische, geordnete Biografie mehr, in der man von der Wiege bis zur Bahre überzeugtes Kirchenmitglied ist.
Wie kann die Kirche in diesem alles verflüssigenden Strom der Moderne Jesus ins Spiel bringen?
Das kann beispielsweise an verschiedenen Stationen von Lebensübergängen geschehen, wie beim Übertritt ins Erwachsenenalter oder bei der Geburt des ersten Kindes, bei einem Todesfall oder bei der Hochzeit. In solchen Lebensmomenten kann die Botschaft des Evangeliums gehört werden.
Verkommt so Kirche nicht zum Dienstleistungsbetrieb?
Wenn sich der Kontakt nur darauf beschränken würde, bestünde diese Gefahr schon. Andererseits: Ich glaube, die Kirche muss ertragen, mit den Menschen immer wieder nur vorübergehend unterwegs zu sein. Von der Idee, dass der Mensch sich in eine Gemeinschaft eingliedern muss, sich kontinuierlich in der Gemeinde beteiligt, müssen wir uns verabschieden. Die Gesellschaft ist sehr individualisiert. Es braucht eine Vielfalt von kreativen Kontaktpunkten mit Menschen, die spirituell interessiert sind.
Wo sehen Sie die Kirche 2050?
Ich glaube der Traditionsabbruch ist Realität, die Kirche muss dem mutig ins Auge schauen. Die kirchlich sozialisierten Mitglieder werden rapide älter und sterben aus. Reist man nach Grossbritannien, schaut man 20 Jahre in unsere Zukunft. In London trifft man Menschen, die fragen den Pfarrer, der ein Kreuz um den Hals trägt, was das für ein Zeichen sei. Die Briten haben die Situation schonungslos analysiert und ihre Schlüsse daraus gezogen. Sie reagieren mit Lust an Kreativität und Experimentellem.
Das heisst?
In London hat der Bischof vor 20 Jahren beschlossen, kein Kirchengebäude mehr zu verkaufen. Die ungenutzten Kirchen hat er Menschen übergeben, die den Kirchenraum nutzen wollten. Es entstand eine unheimliche Vielfalt an kirchlichem Leben. Und auch Kontaktmöglichkeiten zu nicht traditionell kirchensozialisierten Menschen. Ich war in sehr unterschiedlichen Kirchen zu Gast. Manche waren auf Junge fokussiert, andere evangelikal, wieder andere konzentrierten sich auf Familien oder Business-Leute. Es wurde auch viel diakonische Arbeit geleistet.
Auf Zielgruppen ausgerichtete Angebote gibt es schon heute.
Ja, aber die Zielgruppen müssen sich selbst definieren und selber ihre Formen gestalten. Wir sollten weg von dieser sonntäglichen Form des Gemeindegottesdienstes hin zu einer stärkeren Bedarfsorientierung. Was brauchen die Menschen wirklich? Und warum machen wir, was wir tun? Die künftige Kirche kennt keine klar definierten Kirchgemeinden. Sie ist ein Netzwerk, das mehrstimmig ist und mehr Deutungen zulässt für Formen und Orte, an denen das Evangelium gelebt wird. Sie muss nicht ständig die Kontrolle behalten. Dieses Netzwerk umfasst auch kirchenferne Menschen, die offen wären für Beteiligung, wenn sie sich nicht in ein Korsett hineindrücken lassen müssen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Vor einiger Zeit meldete sich eine Tai-Chi-Lehrerin, die mit der Kirche sonst nicht viel am Hut hatte. Sie hatte Zugang gefunden zu mystischen Glaubenstraditionen und entwickelte Gebets-Körperübungen dazu. In den Gesprächen mit mehreren Pfarrpersonen aber spürte sie stets eine Reserviertheit. Erst nach einem Kontakt mit einem Pfarrkollegen, der sich gegenüber diesem Impuls offen zeigte, fühlte sie sich von der Kirche erstmals verstanden und wertgeschätzt. Wenn die Frau unterstützt würde in ihrem Projekt und noch andere Interessierte dazu kämen, könnte aus dieser Initiative etwas Tolles entstehen.
Erfordert die Kirche der Zukunft auch anderes Personal?
Die reformierte Kirche braucht eine grosse Bandbreite an Methoden, Frömmigkeitsformen und Personen. Wir benötigen unterschiedliche Pfarrpersonen, Diakone und so weiter. Entscheidend ist nicht, dass jeder alles kann, sondern bereit ist, zu netzwerken, Menschen weiterzuleiten an die richtige Stelle. Aus dem Amt des Pfarrers leitet sich nicht Autorität ab. Anstelle von Autorität wird Authentizität entscheidend. Die Menschen suchen jemanden, der das, was sie erfahren, kennt und versteht.
Und wie wichtig ist die Kinder- und Jugendförderung?
Religionsunterricht spielt eine wichtige Rolle bei der Kirchensozialisierung. Deswegen bin ich ein Befürworter einer Doppelstrategie. Wir müssen Mittel bereitstellen für das Experimentelle, das Ausbrechen, das Rausgehen aus alten Strukturen. Und gleichzeitig in den Unterricht investieren. Diese Chance dürfen wir nicht aufgeben. Allerdings stellen wir in Zürich fest, dass immer öfter selbst Eltern, die Kirchenmitglieder sind, ihr Kinder nicht mehr konfirmieren lassen.
Hat die Kirche zu lange am alten Gemeindebegriff festgehalten?
Auch jetzt noch wird die Illusion aufrecht erhalten, dass in jedem Dorf eine Gemeinschaft besteht, die sich vor allem auf den Sonntagmorgen fokussiert. Dabei funktioniert das schon lange nicht mehr. Andererseits gibt es auch hierzulande schon Beispiele, wo Kirche über Gemeindegrenzen hinausgeht. Etwa die Spezialpfarrämter an Flughäfen oder an Bahnhöfen. Die Menschen kommen zum Flughafen, egal ob sie aus Aarau oder Affoltern stammen. Diese Pfarrämter sind eine Blaupause für die Zukunft. Dabei muss sich nicht alles auf theologische Fachpersonen konzentrieren, wie bei Spezialpfarrämtern. Es braucht auch diakonische Formen und Leute ohne formelle Ausbildung.
Schweben Ihnen weitere Spezialpfarrämter vor?
Eine Idee wäre ein Pfarramt für Kasualien wie Hochzeiten oder Taufe. Gerade für Menschen, die keinen Bezug mehr zum Ortspfarramt haben. Immer wieder sind Menschen frustriert, weil bei der Taufe ihr Wunschdatum nicht möglich ist. Oder ein Paar ist enttäuscht, dass die Pfarrperson die Trauung nicht in einer weit entlegenen Kapelle vollziehen will. Eine zentrale Stelle für unkomplizierte, kompetente Kasual-Beratungen wäre sinnvoll.
Da wären wir wieder bei den Dienstleistungen.
Selbst wenn. In diesen Momenten lässt sich ganz viel Beziehungsarbeit leisten. Will man, dass Kirchenferne nicht immer kirchenfern bleiben, wäre das ein ideales Angebot. Unabhängige Ritualberater haben den Markt für sich entdeckt. Dabei wissen wir: Wenn jemand das aus der Kirche kompetent macht, besteht auch unter Kirchenfernen eine grosse Offenheit.
Ist das wirklich so? In manchen Kreisen ist es regelrecht verpönt, Mitglied der Kirche zu sein.
Ich glaube, die Kirche hat oft mit Vorurteilen zu kämpfen. In Traugesprächen erlebe ich, dass Paare erst keine Trauung in der Kirche wollten. Später haben sie gemerkt, dass der Pfarrer individuell auf sie eingeht. Ich denke, das Problem ist eine Kombination aus Vorurteilen und einer zu starren Orientierung an alteingesessenen Formen.
Vielleicht müsste sich die Kirche besser vermarkten?
Zum Marketing gehört auch das Produkt. Und das Produkt stimmt nicht mehr so, wie es früher gestimmt hat. Wenn es dann vielfältig ist, offen, netzwerkartig, dann können wir es auch so bewerben.