Kultur und Religion drapieren sich im Wohnzimmer von Esther Girsberger zu einem Stillleben. Auf dem ausladenden Flügel liegt eine jüdische Bibel – eine antiquarische Perle, illustriert von Gustav Doré.
Das Bild fasst zusammen, wie die Publizistin mit einem Faible für Musik die Gretchenfrage beantwortet: Sie ist eine Kulturprotestantin mit jüdischem Hintergrund. Ihr Urgrossvater war Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Aber ihre Mutter verliebte sich in einen Goj, in einen Christen.
Das jüdisch-christliche Elternhaus sei nicht religiös gewesen, erzählt Esther Girsberger: «Aber man liess seine Kinder konfirmieren beim Pfarrer Walter Hess im St. Peter – das gehörte zum guten Ton.»
Die jüdische Identität
Zwei Jahre später führte eine Reise nach Israel zu einem religionsbiografischen Aha-Erlebnis. Da habe sie erstmals realisiert: «I’m Jewish.»
Kirchenfern hatte sie längst der reformierten Kirche den Rücken gekehrt. Aber als der befreundete Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist dem Paar damals riet, den allfälligen Kindern zuliebe der Kirche wieder beizutreten, willigten Esther Girsberger und ihr katholischer Mann ein. «Natürlich kann man mir Opportunismus vorwerfen», sagt die ehemalige Chefredaktorin der Zeitung «Tages-Anzeiger» und heutige Ombudsfrau von SRF. Aber Religion ist der kulturbeflissenen Geigerin wichtig und das Etikett Kulturprotestantismus oder Kulturjudaismus hat bei ihr durchaus einen positiven Klang: «Meine Auseinandersetzung mit dem Juden- und Christentum ist getragen von einer kulturellen Frage und nicht von der Religion.»
Deshalb freut sich Esther Girsberger, dass ihr 17-jähriger Sohn immer mehr fasziniert ist von den interpretatorischen Facetten des Alten und Neuen Testaments. Für sie ist die kulturelle Verzauberung der Welt durch das Judentum und Christentum genug Kitt, um loyal zur Kirche zu stehen.