Auf der Suche nach Heimat

Gestrandet in Europa

2020 barg das Seenotrettungsschiff Sea-Watch 4 die Geflüchteten Cisse, Olivier und Narcisse aus dem Mittelmeer. Ein Jahr später kämpfen sie immer noch um eine Zukunft in Europa.

Nervös warten wir vor dem Bahnhof von Toulouse. Der Fotograf Thomas Lohnes und ich haben eine gut sichtbare Bank ausgesucht. Ob  Olivier (Name geändert) zum verabredeten Zeitpunkt auftaucht? Wir sind noch ins Gespräch vertieft, als uns unversehens jemand unterbricht: «Hey, wie gehts euch denn?» Olivier steht vor uns, ein breites Lachen im Gesicht. Zum letzten Mal sahen wir ihn vor einem Jahr auf dem Rettungsschiff Sea-Watch 4, nachdem er aus dem Mittelmeer gerettet wor­den war. Inzwischen ist er nach Toulouse gegangen. Vor allem der französischen Sprache wegen.

«Hast du Hunger?», frage ich. Wir gehen in ein marokkanisches Strassenrestaurant. In der multikul­tu­rellen Stadt gibt es ungezählte Restaurants mit Küchen aus aller Welt. Jemand wie Olivier aus Kamerun fällt im Strassenbild nicht auf. Hier leben viele Afrikaner. Beim Essen berichtet er, dass er zurzeit ohne feste Bleibe sei. Man habe ihn aus einer Unterkunft für Asylsuchende in Belle­fontaine, einem Vorort von Toulouse, rausgeschmissen.

Von Spanien aufs Meer

Die Seenotrettungsorganisation Sea-Watch hat 2020 mit dem Bündnis United4Rescue ein ehemaliges Forschungsschiff erstanden, das zum Rettungsschiff Sea-Watch 4 umgebaut wurde. Viele Organisationen und Einzelpersonen haben für das Schiff gespendet. Im August 2020 verliess die Sea-Watch 4 Spanien für ihren ersten Einsatz im Mittelmeer. Über 350 Menschen wurden gerettet.

Blog: reformiert.info/seenotizen

Dort, in einem trostlos anmutenden Wohnblock, hatte er ein eigenes Bett und die Möglichkeit, sich zu waschen. Jetzt muss er von Nacht zu Nacht mit Bekannten, die in einem Haus einen Schlafplatz haben, aushandeln, ob er dort übernachten kann. Im Morgengrauen sollte Olivier jedoch spätestens weg sein, damit niemand Ärger be­kommt, denn er hat keine Aufenthaltspapiere. Wenn er duschen will, muss er bereits um sechs Uhr morgens vor der städtischen Einrichtung für Obdachlose stehen. Sonst wird es zu voll, und er kommt nicht zum Duschen.

Geld zu verdienen, um über die Run­den zu kommen, ist Olivier als Asylsuchendem nicht erlaubt. Er spricht flies­send Französisch und Englisch. Doch sein Kommunikationsstudium kann er in Frankreich nicht wiederaufnehmen.

Weil Olivier momentan keiner sinn­vollen Tätigkeit nachgehen kann, sitzt er tagsüber stundenlang in der Nähe der Place du Capitole im Zentrum der Stadt und beobachtet die Menschen, die über den majestätischen Platz flanieren. Hat er Hunger, geht er an den teuren Restaurants und Cafés, die den Platz säumen, vorbei und atmet die Gerüche ein, die zu ihm herüberwehen. Allein der Geruch von Essen sättige ihn, sagt er. 

Manchmal bekommt er etwas zu essen geschenkt, davon bewahrt er einen Teil auf. Auch vom Poulet mit Gemüse, zu dem wir ihn einladen, isst er nicht alles auf. Etwas nimmt er in einer Tüte mit. Es ist seine Wäh­rung für später, wenn er wieder einen Schlaf­platz braucht.

Geflüchtet, weil er schwul ist

Irgendwann während unserer Ge­spräche verrät Olivier mir, dass er homosexuell ist. Seine Veranlagung sei auch der Grund, warum er aus Kamerun geflohen sei. In seiner Heimat gilt Schwulsein als Verbrechen. Seine Mutter, gläubig wie er, verurteilt seine Neigung. Olivier scheut sich aus Angst vor Verfolgung bis heute, fotografiert zu werden, seinen richtigen Namen will er nicht im Internet lesen.

Den Glauben, mit dem Olivier aufgewachsen ist, hat er sich trotz der Anfeindungen bewahrt. Er gibt ihm Kraft. «God will help me.» Diesen Satz wiederholt er immer wieder. Der Glaube hält ihn auch davon ab, sich auf Drogendealer einzulassen oder auf anderen Wegen in die Kriminalität abzurutschen in der Hoffnung, Geld zu verdienen.

Ich lebe noch und habe Hoffnung.
Olivier aus Kamerun, Asylsuchender

Wenn ich an diesem Abend mit Olivier unterwegs bin, wirkt er auf mich wie ein flüchtiger Schatten, der durch Strassen und Boulevards streift. Jemand, der offiziell nicht existiert. Ohne Papiere, ohne Unterkunft und immer in Sorge, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Wenn es warm genug ist, schläft er auf einer Parkbank am Fluss Garonne. «Die Nacht vergeht schneller, als man denkt», sagt er.

Der Freund ist angekommen

Für Menschen, die wie Olivier illegal einreisen, ist es schwer, in Europa ein Bleiberecht zu bekommen. Sie durchlaufen das Dublin-Verfahren. Nach dem Abkommen ist das Land für ihren Asylentscheid zustän­dig, in dem sie erstmals europä­ischen Boden betreten haben. In Oliviers Fall ist das Italien. Inzwischen lebt er aber in Frankreich und hat dort einen Asylantrag gestellt – bisher ohne Erfolg.

Wochen nach unserem Treffen in Toulouse schreibt er mir, dass sein Freund aus Kamerun das Mittelmeer überquert habe und in Italien angekommen sei. Ob der Mann sein Partner oder nur ein guter Bekannter ist, verrät er nicht. Zu gross ist seine Angst, sich oder seine Familie in Kamerun zu gefährden.

Olivier möchte diesen Freund nun nach Frankreich holen. «Wir wollen nach einer Lösung für das harte Leben auf der Strasse suchen», schreibt er mir. Wie diese Lösung aussehen soll, ist völlig unklar. Auf die Frage, ob er die lebensgefährliche Flucht nach Europa bereue, will er keine abschliessende Antwort geben. «Ich lebe noch und habe Hoffnung.» Für die nun auch in Südfrankreich kalten Nächte hat er keinen Schlafplatz.

Gemeinsam mit dem Sohn

Cisse hingegen hat ein Dach über dem Kopf. Wie Christian lebt sie in Frankreich. An Bord des Rettungsschiffs Sea-Watch 4 trug sie ihren damals einjährigen Sohn Ali oft in ein Tuch gewickelt mit sich. Sie war von der Elfenbeinküste auf die ungewisse Reise nach Europa aufgebrochen. Mutter und Sohn leben nun in Lyon.

Dort treffen wir sie auf einem Spielplatz. Cisse ist eine zurückhal­tende Frau. Manchmal gehe es ihr nicht gut, sie kämpfe gegen die Hoff­nungslosigkeit, habe Depres­sionen, sagt sie mir. Sie sitzt auf einer Bank auf dem Spielplatz. Ali, mittlerweile zweijährig, hat gerade das Velo von einem anderen Kind ausgeliehen und freut sich riesig. Ei­gene Spielsachen hat er nicht. Un­ter Cisses T-Shirt wölbt sich der Bauch. Als ich sie frage, ob sie einen Freund habe, nickt sie. «Ich habe hier in Lyon jemanden aus meiner Heimat getroffen.» Mehr will sie nicht preisgeben.

Essen von der Heilsarmee

Cisse lebt in einer Unterkunft für Menschen ohne Aufenthaltspapiere in einem Aussenbezirk von Lyon. Das Gebäude ist heruntergekommen. Die Farbe an den Wänden brö­ckelt. Im Hof stehen ein paar Männer und unterhalten sich. Cisse teilt sich mit ihrem Sohn ein kleines Zim­mer, in dem kaum mehr als das Bett Platz hat. Darunter holt sie jetzt aus einem Plastiksack ein Brot hervor. Davon schneidet sie ein Stück ab, bestreicht es mit Konfitüre und gibt es ihrem Sohn zum Essen. Das Brot hat sie am Vorabend von der Heilsarmee mitgenom­­men.

Manchmal geht es mir nicht gut, ich kämpfe gegen Depressionen.
Cisse von der Elfenbeinküste, Asylsuchende

Zweimal täglich geht sie zu der christlichen Hilfsorganisation, um sich und ihr Kind zu versorgen. Im Asylzentrum selbst gibt es kaum Hilfsangebote. Vor ihrem Zimmer hängt ein Zettel mit zwei Anlässen für die Bewohner. Einer davon ist ein Ausflug mit Picknick. Dieser soll am 23. August stattfinden. Cisse zeigt auf das Datum und sagt: «Der 23. August vor einem Jahr ist der Tag meiner Rettung.» Ihre Stimme klingt plötzlich zuversichtlich.

In der Low-Budget-Kantine

Zur Mittagszeit begleiten wir Cisse und Ali zur Essensausgabe der Heils­armee. In einer Schlange vor der Kantine warten die Menschen auf Einlass. Wir müssen nicht lange warten, Cisse wird von einem Bekannten vorgelassen. Über ein Dreh­kreuz steuern Sicherheitsbeamte den geordneten Zugang. Cisse hat eine Chipkarte, die sie zum Eintritt berechtigt. Die Kantine ist modern und einladend gestaltet. Die Tapete zeigt grüne Dschungelmotive. Zu es­sen gibt es Salat, Brot, Couscous, Pommes frites und Gemüse. Cisse bekommt für ihren Sohn Ali noch ein Joghurt extra.

Neben Asylsuchenden kommen auch Einheimische mit kleinem Bud­g­et in die Kantine. Es ist ruhig, alle kennen die Abläufe. Ein junger Mann grüsst Cisse freundlich. Sie kennt ihn von der Unterkunft. «Der ist verrückt im Kopf», sagt sie, als er wieder ausser Hörweite ist. Sie meint damit, dass er wie viele Menschen auf der Flucht unter psychischen Problemen leidet.

Die Flucht macht krank

Cisse trägt ebenfalls Verletzungen in ih­rer Seele. Spuren körperlicher Schmer­zen sind die Narben von heis­sen Scheren, mit denen sie in Libyen gefoltert wurde. Die Folterungen von Schwarzafrikanern in Libyen sind international bekannt. Seit Februar erhält Cisse psychologische Betreuung. Der Arzt hat ihr eine schwe­re posttraumatische Störung attes­tiert. Sie leidet unter Albträumen und Schlafstörungen. Die zuständige So­zial­arbeiterin sagt mir später, dass Cisse gute Aussichten habe auf ein Asyl in Frankreich. Sie ist schwanger, zudem macht das ärztliche Attest eine Rückführung nach Italien unwahrscheinlich.

Eingelebt in Italien

In Italien geblieben ist Narcisse. Er war im Sommer 2020 ebenfalls an Bord der Sea-Watch 4 und konnte aus dem Meer gerettet werden. Der bald 19-Jährige darf erst mal durchatmen, denn er kann im nordita­lie­­­nischen Asti bleiben. Vorläufig zu­mindest, denn Narcisse hat in Italien eine sogenannte Duldung für fünf Jahre bekommen. Aufgrund der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes, die auch Italien unterzeichnet hat, gilt für Minderjährige ein besonderer «Beistand des Staates». Zudem hat Narcisse das Glück, dass ihn ein engagierter Sozialarbeiter unterstützt. «Er hat alles im Blick, was meine Papiere betrifft», erzählt er.

Der Vater des gebürtigen Kameruners ist schon länger verstorben, Mutter und Schwestern musste Nar­cisse zurücklassen. «Die sind sehr schlecht dran», sagt er. Denn im zentralafrikanischen Land tobt ein Bürgerkrieg zwischen den frankofonen Provinzen und der englischsprachigen Zentralregierung. Die Fronten in diesem Konflikt führen mitten durch Kumba, Narcisses Hei­matstadt. Erst im Oktober letzten Jahres haben Separatisten in einer Schule der Stadt ein Massaker verübt und sieben Kinder getötet.

Hier in Asti gibt es zu viel Pasta.
Narcisse aus Kamerun, Asylsuchender mit Duldung

Narcisse weiss die fünfjährige Duldung als Privileg zu schätzen. Er will sich an alle Regeln halten. Nicht einmal die Strasse überquert er auf direktem Weg, sondern sucht immer einen Zebrastreifen. Mehrmals wöchentlich paukt er Italienisch in der Schule. Im kommenden Jahr wird er die Sprachschule bereits abschliessen können. Die Landessprache braucht Narcisse zwingend, um einen Job in Italien zu bekommen. In Libyen – wie für viele andere eine Station auf der Flucht – arbeitete er als Automechaniker, um über die Runden zu kommen.

Junger Mann mit Plänen

Narcisse will auch in Italien als Automechaniker arbeiten. Hierzu muss er aber zunächst eine Ausbildung machen. Das dauert ihm ei­gent­lich zu lang. Er will möglichst rasch Geld verdienen. Es sei sein Traum, hart zu arbeiten, um seine Familie in der Heimat zu unterstützen, schreibt er mir nach unserem Treffen. Narcisse ist ein guter Fussballer. Er spielt in der Scuola Calcio Astigiana, einer Fussballschule in Asti, und sein grösster Wunsch ist, vom Talentscout eines grossen Vereins entdeckt zu werden.

«Hier geht es mir gut», versichert mir Narcisse. Er lebt im Camp mit 40 Männern. Als Taschengeld hat er 75 Euro im Monat vom Staat. Hin und wieder kauft er damit Lebensmittel, mit denen er kochen kann wie zu Hause in Kamerun. In Asti gebe es zu viel Pasta, sagt er.

Vieles bleibt noch offen

Meine Gespräche mit den Geflüchteten hinterlassen gemischte Gefüh­le. Am meisten bewundere ich die Lebenskraft jener, die ich wiedergetroffen habe. Nach der Rettung aus dem Meer gehen sie nun einen steinigen Weg an Land.

Narcisse braucht einen Beruf. Cisse hat gerade einen Sohn zur Welt gebracht. Ob sie ihre Traumata überwindet und in stabile Lebensverhältnisse fin­det, ist offen. Olivier will die brutale Realität der Flucht aufschreiben, falls er es irgendwann schafft, sich nie­derzulassen. «Es gibt viele Menschen auf dieser Welt, die leiden. Aber Gott wird die Türen für die Lei­denden öffnen», sagt er.

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