Schwerpunkt 31. Dezember 2021, von Cornelia Krause, Felix Reich

«Europa bricht mit seinen Werten»

Gestrandet in Europa

Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan kritisiert den europäischen Migrationskurs scharf. Die Politik sei gescheitert, viele Gemeinden könnten von der Migration profitieren.

«Europa versagt»: So lautet der Titel Ihres Buches über die aktuelle Flüchtlingspolitik. Warum ziehen Sie ein derart vernichtendes Fazit?

Gesine Schwan: Die Mitgliedstaaten der EU behaupten, sie hätten einen Konsens über die Grundwerte, auf denen ihre Politik fusst, und bekennen sich zu demokratischen Prin­zipien. Mit diesen Werten und sogar mit dem Völkerrecht brechen sie jedoch in der Flüchtlingspolitik. Flüchtlinge werden an den Gren­zen zurückgestossen, ohne dass sie ein Asylgesuch stellen können, überfüllte Boote zurück auf hohe See gedrängt. Ein solcher Widerspruch zwischen der normativen Grundlage, die angeblich gilt, und der Realität kann mit der Zeit eine explosive Dy­namik entwickeln.

Was droht zu explodieren?

Die Widersprüche in der Flüchtlings­politik drohen die Europäische Gemeinschaft zu zerstören. Wenn sie im Umgang mit Drittstaaten gegen ihre eigenen Werte verstösst, halten sich die Mitgliedstaaten mit der Zeit auch untereinander nicht mehr an die Spiel­regeln.

Im September 2020 stand das Flüchtlingslager Moria auf der grie­chischen Insel Lesbos in Flammen. Europas Regierungen verspra­chen, die Lage an den Aussen­grenzen zu verbessern. Inzwischen gibt es wieder Lager, die Gefängnissen ähneln. Warum hat die Kata­strophe nichts bewirkt?

Weil die europäischen Regierungen das Ziel, gemeinsame Beschlüsse zu fällen, über alles stellen. Sie suchen den kleinsten gemeinsamen Nenner mit Ungarn oder Polen. Die Gemeinsamkeit erschöpft sich im teuren Schutz der Aussengrenzen und der Abwehr von Flüchtlingen. 

Die EU ist kein Staat, und wir befinden uns nicht im Kriegszustand mit Belarus. Dass meterhoher Stacheldraht das Problem nicht löst, ist offensichtlich.
Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin

Die EU muss in der Migrationspolitik doch geeint auftreten.

Warum? Eine gemeinsame europä­ische Flüchtlingspolitik ist für die EU doch nicht konstituierend. Auch beim Euro oder beim Schengen-Abkommen handeln die Mitglied­staaten nicht einheitlich. Ich plädiere dafür, dass eine Koalition der Willigen vorangeht und zeigt, dass Einwanderung nicht nur gelingen kann, sondern auch im Interesse vie­ler Gemeinden liegt.

Die prekäre Situation an der Grenze zu Belarus verlangt derzeit jedoch schon nach einer gemeinsamen Antwort der EU.

Nein. Die EU ist kein Staat, und wir befinden uns nicht im Kriegszustand mit Belarus. Dass meterhoher Stacheldraht das Problem nicht löst, ist offensichtlich.

Was soll die EU tun, wenn mit dem belarussischen Regime ein Staat zum Schlepper wird, der die europäischen Staaten erpressen will?

Wir könnten die Lage entdramatisieren. Selbst ein bis zwei Millionen Flüchtlinge auf 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner wären für die EU verkraftbar. Solange die Union auf Abschreckung setzt, macht sie sich tatsächlich erpressbar. Stattdessen sollte sie sagen: «Wir regeln das.» Dann verliert Belarus schlagartig die Möglichkeit, andere Staaten zu erpressen.

Sie plädieren für eine Integrationspolitik, in der die Gemeinden eine Schlüsselrolle spielen. Warum wissen es die Kommunen besser?

Die Kommunen sind viel näher an den Integrationsfragen als die nationalen Regierungen. Auf der kommunalen Ebene dreht sich die Politik zudem weniger um den reinen Machterhalt. Deshalb sind Städte und Gemeinden die verlässlicheren, pragmatischeren Ansprechpart­ne­­rin­nen. Sie könnten sich zu einem Netzwerk zusammenschliessen. Ein europäischer Fonds würde Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen und integrieren wollen, direkt finanzieren. Das setzt natürlich das Einverständnis der betroffenen Staaten vo­raus. Aber wenn nur schon elf Län­der in einer «verstärkten Zusam­menarbeit» vorangehen und sich einigen, wie viele Leute sie aufnehmen können, wäre viel gewonnen. Und dann wären eben die Kommunen am Zug.

Die Integration funktioniert, wenn sich zwei finden. Wir sollten deshalb von Datingplattformen lernen.
Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin

Und warum glauben Sie, dass die Kommunen mitziehen werden?

Als ich mein Buch schrieb, hatten EU-weit etwa 500 Städte und Gemeinden angeboten, mehr Geflüchtete aufzunehmen als bisher. Mittlerweile sind es etwa 740, ohne dass es ein Anreizsystem, wie ich es skiz­ziert habe, überhaupt gibt. Sogar in Polen und Ungarn gibt es Gemein­den, die bereit wären, mehr Menschen aufzunehmen. Besonders in länd­lichen Regionen sinken die Ein­wohnerzahlen, was letztlich Ver­sor­gung und Infrastruktur gefährdet. In bestimmten Gegenden in Ostdeutschland bekommt man oft nicht ein­mal mehr eine Jugendfussballmannschaft zusammen.

Aber gerade dort ist Fremdenfeindlichkeit zunehmend ein Problem.

Aus der Forschung wissen wir, dass Vorurteile vor allem dort entstehen, wo die betroffenen Personengruppen gar nicht leben. Es gibt auch po­sitive Beispiele. In Hettstedt in Sachsen-Anhalt ging die Einwohnerzahl nach der Wende rapide zurück. Der Bürgermeister, ein Konservativer, fragte die Bürgerinnen und Bürger, ob sie bereit wären, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Sie stimmten zu. Die Iraker und Syrer, die dort ankamen, haben auch das Fussballteam beflügelt und es mit ihren Toren zum Aufstieg geschossen. Auf diese Weise finden Menschen zusammen, entwickeln Stolz, Wertgefühle und gegenseitige Achtung. Wichtig war, dass der Bürgermeister die Bevölkerung mitnahm und am Entscheid beteiligte.

Mehr direkte Demokratie führt also zu besserer Integration?

Mitsprache ist ganz entscheidend. Die Kommunen sollten sich überlegen, wo ihre Bedürfnisse sind, in welchen Bereichen Arbeitskräfte ge­braucht werden oder ob sie vor allem Familien ansprechen wollen.

Gesine Schwan, 78

Die Politikwissenschaftlerin ist Präsidentin und Mitbegründerin der Humboldt-Viadrina Governance Platform, die demokratische Prozesse und Governance-Strategien in Deutsch­land, Europa und der Welt fördert. Schwan war Professorin für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). 1972 trat sie in die SPD ein, wo sie zum Seeheimer Kreis zählte, der sich gegen eine neomarxistische Programmatik wehrte. 2004 und 2009 kan­didierte sie für das Amt der Bundesprä­sidentin. Gesine Schwan wurde in Berlin geboren und stammt aus einer sozial engagierten Familie, die im Nationalsozialismus protestantischen und sozialistischen Widerstands­kreisen angehörte.

Gesine Schwan: Europa versagt; eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich. S. Fischer, 2021, 142 Seiten

Die Kommunen sollen die Einwanderung selbst steuern können?

Ja. Dazu schlage ich ein Matching-System vor, wie es von Datingplattformen längst angewendet wird.

Migrationspolitik und Partnervermittlung haben wenig gemeinsam.

Doch. Auch Integration funktioniert nur, wenn sich zwei finden. Kommunen können ihre Wünsche anmelden und sich den Migranten auf Onlineprofilen vorstellen. Die Ankunftszentren eruieren zügig, wer welche Fähigkeiten hat oder ob die Person bereit ist, einen anderen Berufsweg einzuschlagen. Ob sie lieber in die Stadt oder aufs Land ziehen will, vielleicht gibt es bereits eine gut integrierte Community aus einem bestimmten Land. So lassen sich Interessen abgleichen. Und die Zeit in den Aufnahmezentren wird effektiv genutzt.

Aber im Gegensatz zur Partnervermittlung herrscht ein Machtgefälle: hier Menschen auf der Flucht, dort die Kommunen, die sich passen­de Arbeitskräfte aussuchen können.

Rosinenpickerei darf es nicht geben. Die lokalen Entwicklungsbeiräte, in denen neben Arbeitgebern auch Flüchtlingshilfen oder kirchliche Werke wie Caritas und Diakonie vertreten sind, müssen die Profile definieren. Das garantiert, dass Geflüchtete nicht instrumentalisiert werden. Die einzelnen Regionen ha­ben ganz unterschiedliche Bedürfnisse, deshalb ist es möglich, die Menschen unterzubringen.

Sie kritisieren, dass Asylverfahren in der EU zu lange dauern. Wie be­urteilen Sie das Schweizer System?

Im Detail kenne ich mich nicht aus mit dem Asylsystem in der Schweiz. Aber sie hält die Verfahren im Vergleich mit anderen Staaten kurz, das ist wichtig. Entscheidend ist dabei, dass die Rechte der Flüchtlinge gewahrt bleiben. Da hat das Schweizer System Vorbildcharakter, weil den Flüchtlingen von Anfang an durch den Einbezug von Hilfswerken Rechtshilfe gewährt wird.

Der moralische Appell steht nicht im Zentrum. Lieber betone ich die Interessen der Kommunen.
Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin

Zu Asylverfahren gehören negative Entscheide. Sie halten eine humane Flüchtlingspolitik für möglich. Gibt es auch humane Rückführungen?

Rückführungen sind für die betroffenen Menschen oft mit einer Demütigung verbunden. Sie wurden von ihrer Familie, manchmal vom ganzen Dorf nach Europa geschickt und kommen dann mit leeren Händen zurück. Deshalb braucht es Rück­kehrhilfen. Vielleicht auch finanzielle Anreize, damit Menschen ohne Asylgrund zurückkehren.

Deutschland hat eine neue Regierung. Macht die Ampelkoalition die bessere Migrationspolitik?

Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass Menschen, die illegal eingereist sind oder deren Asylgesuch abgelehnt wurde, ein Bleiberecht erhalten kön­nen, wenn sie sich gut integriert und Arbeit gefunden haben. Die Chance auf einen solchen Spurwechsel ist ein Fortschritt.

Was entgegnen Sie, wenn Ihnen Kri­tiker Naivität vorwerfen?

Ich argumentiere doch vernünftig. Die Abschottung funktioniert ja ganz offensichtlich nicht. Den moralischen Appell stelle ich nicht ins Zentrum. Lieber betone ich die Interessen der Kommunen. Es macht keinen Spass, in einer Region zu leben, in der die Menschen wegziehen. Natürlich ist Integration zuweilen anstrengend, aber Konflikte gehören zum Leben. Dass es einfach wird, hat niemand behauptet.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirche im Bereich Migration?

Ich bin Katholikin. Nach meinem Verständnis ist die Kirche von Gott gestiftet und mit allen Problemen der Erde behaftet. Die Missbrauchsskandale haben insbesondere die katholische Kirche viel Glaubwürdigkeit gekostet. Wir können deshalb aber nicht auf die Kirche verzichten, wir müssen sie verbessern. Wenn es um Migration geht, zählen evangelische und katholische Kirche zu den verlässlichsten gesellschaftlichen Akteuren. Sie weisen darauf hin, dass es ohne Menschlichkeit nicht geht. Blicken wir auf die Herausforderungen unserer Zeit, so geht den Kirchen die Arbeit ja nicht aus: Nachhaltigkeit, Schutz des Planeten, Migration, Gerechtigkeit. Wenn die Kirchen hier Antworten finden, holen sie vielleicht auch jün­gere Generationen zurück.

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