Am 15. August hat das Rettungsschiff vom spanischen Burriana abgelegt.
An Bord 25 Aktivisten und zwei Journalisten. Sanfte Wellen schlagen
gegen das ehemalige deutsche Forschungsschiff, das Kurs auf die Gewässer vor Libyen nimmt.
Für Berker ist es die
erste Mission ins zentrale Mittelmeer. Die 300 Kilometer Seeweg
zwischen Libyen und der sizilianischen Küste werden für Flüchtlinge
immer wieder zur Todesfalle. Vom Strand des nordafrikanischen Landes
setzen seit Jahren seeuntaugliche Gummiboote mit Hunderten von
Afrikanern ab. Ihr Ziel: Europa.
«Ich war schon immer ein sehr engagierter Mensch», sagt die Aktivistin. Auf
ihrem weissen T-Shirt prangt ein hellblauer Rettungsring. Er ist das
Logo der zivilen Rettungsorganisation Sea-Watch. Berker ist
hochgewachsen, die langen dunkelblonden Haare trägt sie zu einem Knoten. Sie ist überzeugt von dem, was sie tut. Der Blick aus den graublauen
Augen verrät keine Zweifel.
Zu Schulzeiten war sie in der Jugendarbeit
der evangelischen Kirche aktiv. Später studierte sie im niederländischen Maastricht internationale Konflikt- und Friedensstudien. «2015, zu
Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise, war ich extrem frustriert»,
sagt sie. Im Studium las sie von der Abschottungspolitik Europas.
Gleichzeitig wurde diese Politik an Europas Grenze, direkt vor ihrer
Haustür, umgesetzt. «Dann sah ich das Bild.»
Der umstrittene Deal
Der Politikberater Gerald Knaus war in Paris, als er das Foto des
ertrunkenen Zweijährigen zum ersten Mal sah. «Selten hat ein Bild das
Leben vieler so schnell verändert», schreibt der Migrationsexperte in
seinem neuen Buch «Welche Grenzen brauchen wir?». 60 000 syrische
Flüchtlinge wurden nach dem tragischen Tod des Jungen von den USA,
Grossbritannien, Kanada sowie Australien direkt aufgenommen.
Knaus ist Gründer der unabhängigen politischen Denkfabrik European Stability
Initiative (ESI), die von Stiftungen und der schwedischen Regierung
finanziert wird. Schon im Herbst 2015 war sein Ziel, das
Flüchtlingsdrama zu beenden. Denn in den Wochen zuvor hatten
Hunderttausende Menschen, oftmals aus Syrien, nach Westeuropa gedrängt.
Über das Mittelmeer, dann über die Balkanroute.
Zwei Wochen nach dem Tod von Alan Kurdi verschickte Knaus seinen Bericht
«Warum niemand in der Ägäis ertrinken muss» an 35'000 Empfänger. Es war
die Geburtsstunde des EU-Türkei-Deals von 2016, mit dem die Zahl von
Flüchtlingen nach Europa gestoppt werden sollte. Das Prinzip: Die Türkei nimmt Migranten, die irregulär nach Griechenland gelangen und in der EU keinen Schutz beanspruchen können, wieder zurück.
Im Gegenzug
überstellt die Türkei schutzberechtigte Flüchtlinge aus dem eigenen Land in die EU. Zudem verpflichtet sich die EU zu Milliardenzahlungen an die Türkei für die Versorgung von Flüchtlingen. So sollten sich möglichst
wenige Menschen auf den gefährlichen Seeweg begeben.
Damals wie heute ist der Österreicher ein gefragter Mann bei Politikern und
Medien. Es gibt Tage, an denen er fünf Interviews gibt, dazwischen
schreibt er Analysen, hat Besprechungen mit Parlamentariern von
EU-Ländern, er sitzt auf Podien mit NGO-Vertretern oder in Talkshows –
wie jüngst etwa mit dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz.
«Ziel unserer Denkfabrik ist es, Probleme zu identifizieren, Lösungen zu
finden und diese dann an Entscheidungsträger heranzutragen», sagt der
50-Jährige. Er ist der Typ junggeblieben, randlose, eckige Brille, kurze braune Haare. Er trägt ein dunkles Hemd mit Nadelstreifen während des
Gesprächs mit «reformiert.» via Videokonferenz. Hinter ihm prangt eine Weltkarte.
«Ziel muss sein: 0 Tote im Mittelmeer.»
Die Realität ist eine andere. Allein in den letzten zwölf Monaten starben
rund 900 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer. Meist wurden ihnen die instabilen, überfüllten Boote zum Verhängnis.
Das Eiland der Hoffnung
Die Besatzung der «Sea-Watch 4» hat inzwischen 200 Menschen aus Seenot
gerettet. Rebecca Berker ist für deren Versorgung auf den verschiedenen
Decks zuständig. Weil der Koch ausgefallen ist, hat sie zusätzlich die
Organisation der Schiffsküche übernommen.
Seit die Flüchtlinge an Bord sind, steht Berker jeden Morgen in der kleinen
Reisküche auf dem Achterdeck. Sie rührt in Zwölf-Liter-Töpfen. Der
Schweiss rinnt ihr am Körper herunter. Sie bleibt motiviert. «Wir müssen die harten Bedingungen nur zwei Wochen durchhalten.»
Die Geretteten
dagegen hätten schon viel durchgemacht und einen langen Leidensweg vor
sich. Das Kochen für Hunderte Menschen ist für die Studentin nichts
Neues. Im Winter 2015 reiste sie auf die griechische Insel Chios.
Eiland der Hoffnung für Tausende Fliehende aus dem Nahen und Mittleren
Osten.
Berker und viele andere Aktivisten waren damals die ersten Helfer vor Ort. Bei Sonnenuntergang suchten sie die Küste nach Flüchtlingsbooten ab, zogen Menschen aus dem Wasser,
verteilten trockene Kleidung und heissen Tee. «Wir hatten immer Angst,
dass am Morgen Wasserleichen angeschwemmt werden.» Im Lager kochten die
freiwilligen Helfer. «Ich habe vergessen, wie viele Teller Suppe und
Reis durch meine Hände gingen.»
Auch
Knaus hat Chios besucht. 2017 und 2018 gemeinsam mit dem dortigen
Bürgermeister, der wollte, dass die Welt von der Misere auf der Insel
erfährt. Damals sei es Sommer und zumindest warm gewesen, erzählt Knaus. Doch im Lager unterhalb der Festung hätten die Menschen noch immer in
Zelten gelebt.
«Es gab keine Sicherheitskontrollen, jeder konnte rein
und raus.» Es fehlten Ärzte, die Kinder fürchteten Rattenbisse. Die
«unwürdigen Zustände» damals seien aber weit weniger schlimm gewesen als heute, sagt der Politikberater. Inzwischen leben noch viel mehr
Menschen in den hoffnungslos überfüllten Lagern der griechischen Inseln.
Der Brand im Lager Moria auf Lesbos
lenkte den Fokus der Weltöffentlichkeit jüngst auf Griechenland und
zeigte: Die Lager wurden zur Achillesferse des von Knaus entworfenen
Deals. Statt schnelle Asylverfahren zu erhalten und bei einem negativen
Entscheid die EU zu verlassen, lebten die Menschen monatelang unter
widrigsten Umständen in den Lagern.
Die
Türkei warf der EU vor, ihre Zusagen nicht erfüllt zu haben und setzte
das Abkommen im Frühjahr aus. Für Knaus ein Worst-Case-Szenario: «Ein
Scheitern der Vereinbarung bedeutet das Ende der
UNO-Flüchtlingskonvention.» Er zählt die Rechtsbrüche auf, die nicht
nur von NGOs kritisiert, sondern auch in Regierungen und in der
EU-Kommission diskutiert werden: In Griechenland werden Flüchtlingsboote abgewiesen und zurückgedrängt, gar unter den Augen der
EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Und Länder wie Italien oder Malta
arbeiten aktiv mit Libyen zusammen, obwohl längst bekannt ist, dass in
den Flüchtlingscamps des Landes Gewalt und Folter herrschen.