Recherche 03. September 2020, von Sandra Hohendahl-Tesch

Umstrittener Einsatz im Mittelmeer

Seenotrettung

Mehr als zwei Wochen war «Sea Watch 4» auf hoher See, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die Mission ist innerhalb der Kirche umstritten.

Der erste Einsatz des von der Evangelischen Kirche Deutschland finanzierten  Flüchtlingsschiffs «Sea-Watch 4» ist Geschichte: 354 Menschen konnten die freiwilligen Helferinnen und Helfer in den letzten zwei Wochen auf ihrer gefährlichen Überfahrt nach Europa aufgreifen und vor einem möglichen Ertrinkungstod retten. Nach tagelangem Tauziehen durfte das Boot gestern Mittwoch den Hafen von Palermo ansteuern. Die Geretteten – darunter viele Frauen, Kinder und unbegleitete Minderjährige ­– wurden von den italienischen Behörden auf ein Quarantäne-Schiff verfrachtet.

Das kirchliche Flüchtlingsschiff im Mittelmeer ist in Kirchenkreisen umstritten. Ein Befürworter des Einsatzes ist der Berner Synodalrat Ueli Burkhalter. «Die Kirche muss allen Menschen in Not helfen, das ist unsere Kernaufgabe», sagt er auf Anfrage. Was im Mittelmeer passiere, sei nichts anders als eine humanitäre Katastrophe. Nach Angaben der UNHCR sind im Jahr 2020 bisher rund 48 000 Geflüchtete nach Europa gekommen. Die grosse Mehrheit, über 43 000, gelangte über das Meer nach Spanien, Italien, Malta, Zypern oder Griechenland. Tausende von Menschen fanden dabei den Tod. «Dem dürfen wir nicht weiter tatenlos zusehen», so der Pfarrer. 

Wichtiges Symbol

Die Evangelische Kirche Deutschland hatte zuvor zu Spenden für das Schiff aufgerufen, bei denen sich auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz und die Schweizer Bischofskonferenz beteiligten. Das kirchliche Boot «Sea-Watch 4» sei vor allem ein «wichtiges Symbol», sagt Burkhalter. Die Probleme könne man zwar damit nicht lösen. Es helfe aber, dass die Leute hinschauen und nicht die Augen verschliessen. Damit auf politischer Ebene endlich etwas passiere. Sich einfach auf Schengen-Dublin zu berufen und die Leute in ihre Ankunftsländer zurückschicken, könne keine Option sein. «Wenn die Politik versagt, ist es die Aufgabe der Kirche, darauf aufmerksam zu machen.»

Der Zürcher Kirchenrat Andrea Bianca hingegen beurteilt die kirchliche Seenotrettung kritisch. Er findet es sinnvoller, dass die Kirche vor Ort Unterstützung leistet, um nachhaltig zu helfen. Eine christliche Pflicht, als Kirche ein eigenes Boot zu schicken, sieht er nicht. Im Gegenteil. Bianca ist der Auffassung, dass die Kirche damit nicht verantwortungsethisch handle. «Klar muss man jemanden retten, der vor einem zu ertrinken droht», sagt er. Aber die zentrale Frage sei: Kann die Kirche für diese Menschen nach der Rettung auch die Verantwortung übernehmen? Kann sie sicherstellen, dass sie nicht zurückgebracht werden? Kommen so mehr Menschen nach, die ertrinken, weil dann kein Schiff da sein wird?  In der Debatte um die Seenotrettung müsse man diese Konsequenzen beachten. Das kirchliche Schiff verschärft seiner Meinung nach das Problem und zementiert das zu ändernde System.

Kalkül der Schlepper

Auch der Thurgauer Kirchenrat Wilfried Bührer kritisiert die kirchliche Seenotrettung. «Die Bilder von ertrinkenden Menschen vor den Toren Europas erschüttern auch mich», sagt er auf Anfrage. Dennoch versuche er, sich mit kühlem Kopf ein paar weitergehende Überlegungen zu machen: So seien die Zahlen der Ertrinkenden in der Corona-Zeit, da es kaum mehr Rettungsschiffe gab, nicht in dem Masse gestiegen, wie man das hätte erwarten müssen. Für ihn bedeute das, dass die Organisatoren der Überfahrt, die Schlepper, das Vorhandensein von Rettungsschiffen bewusst in ihr Kalkül einbeziehen. «Wollen wir das unterstützen?» Bührer setzt auf das Konzept des so genannten Resettlements: Staaten entscheiden, eine bestimmte Anzahl Flüchtlinge, vor allem besonders Verletzliche, direkt in das Land zu holen. Auch die Schweiz tut das. «Dann ist auch klar, wer für die weitere Versorgung der Flüchtlinge verantwortlich ist», so der Pfarrer.

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