Von 13:30 bis kurz nach 17 Uhr dauerte die Ausschiffung der 354 Geretteten auf die riesige italienische Fähre Allegra vier Seemeilen von dem Hafen von Palermo entfernt. Noch einmal bündelte die Crew der Sea-Watch 4 alle ihre Kräfte, um den geordneten Ablauf von einem Schiff auf das andere zu gewährleisten.
Gegen Mittag besuchte uns ein Schiff der italienischen Guardia Costiera und leitete die Ausschiffung ein. Die Sea-Watch 4 musste so nahe an die riesige Fähre Allegra gefahren werden, damit ein Gangway von einem auf das andere Schiff gelegt werden konnte. Ein schwieriges und langwieriges Manöver. Die Migrantinnen und Migranten mussten noch einige Stunden Geduld aufbringen bis alle Papiere von den italienischen Behörden registriert waren. Die Crew der Sea-Watch 4 begleitete diesen Prozess in voller Covid-19-Schutz-Kleidung, was in der brütenden Hitze am Mittag schwer auszuhalten war.

Ein letzter Kraftakt
Die erste Mission der Sea-Watch 4 ist erfolgreich zu Ende gegangen. Die 354 Geretteten wurden auf ein Quarantäneschiff gebracht. Zurück bleibt Stolz und eine grosse Leere.
Nach ihrer Ankunft in Palermo müssen die Flüchtlinge zwei Wochen auf einer Fähre in Quarantäne. (Foto: epd/Thomas Lohnes)

In die Ungewissheit entlassen
Es war ein wehmütiger Abschied. Die gemeinsame Zeit auf dem Schiff hatte die Crew und die Geretteten zusammengeschweisst. «Bonne chance», «Good luck», «Merci»: Wir schickten uns Herzchen zu und winkten zum Abschied.
Mit einigen Menschen, die ich kennengelernt habe, hoffe ich, Kontakt halten zu können. Was wohl aus ihnen wird? Haben Sie eine Chance in Europa? Cisse von der Elfenbeinküste? Aimen aus Tripolis? Oder Christian aus Kamerun?
Video: epd/Thomas Lohnes
Meine Sicht auf Afrika hat sich völlig verändert. Ich bin diesem grossen, reichen Kontinent viel näher gekommen. Aber das Leid, das diesen Menschen zugefügt wurde, das muss ich erst verarbeiten. Diese Gewalt, diese Ungerechtigkeit.
Ich bin froh, die Mission gewagt zu haben und hinausgefahren zu sein. Ich würde es jederzeit wieder tun.
Es war richtig
Die zivile Seenotrettung ist umstritten. Aber ich habe gesehen, wie Leben gerettet werden. 354 Menschen haben überlebt. Es ist keinenfalls sicher, dass sie das ohne den Einsatz der Sea-Watch 4 geschafft hätten.
Das sind alles Menschen, die sich da in Gummiboote setzen. Menschen, die Entsetzliches hinter sich haben. Noch heute Morgen hat mir Aimen aus Libyen erzählt, dass er in Tripolis nicht einmal auf die Strasse gegangen ist, aus Angst erschossen zu werden. Sein kleiner Bruder wurde entführt, weil er sich über die Regierung beschwert hatte. In Libyen könne man nicht leben, sagt Aimen. Wenn er zur Bank geht, kann er sein Geld nicht beziehen.
Der weite Horizont
Nun muss ich mit der Leere, welche die Migrantinnen und Migranten hinterlassen haben, zurecht kommen. Wenn wir jetzt auf die Decks gehen, ist da niemand mehr. Keine Gespräche, keine Essensverteilung, kein Abwasch, keine Nachtwachen, kein kleiner, süsser Ali. Wir haben das Schiff wieder für uns.
Aber für mich – und ich glaube für uns alle – haben diese Menschen eine Menge Gefühl in unsere Leben gebracht. Gefühl, dass in unserer Gesellschaft oft fehlt. Ich bin dankbar dafür, was ich erleben konnte. Und ich weiss nun ganz gewiss, dass mir enge Horizonte und Menschen, die nicht über den eigenen Tellerrand hinaus blicken, nicht liegen.
Der Blog
Im August 2020 lief das mit kirchlichen Spenden finanzierte Seenotrettungsschiff «Sea-Watch 4» zu seiner ersten Mission aus. Die «reformiert.»-Redaktorin Constanze Broelemann ist für reformiert.info und evangelisch.de an Bord und berichtet vom Schiff in ihrem Blog «Seenotizen».
Die Migrantinnen und Migranten müssen für zwei Wochen auf der Allegra in Quarantäne bleiben. Das Rote Kreuz ist an Bord und wird medizinisch für die Menschen sorgen. Auch andere Hilfsorganisationen an Land werden sich den Leuten annehmen. Dennoch: Es wird für sie nicht einfach werden.
Mission erfüllt
Auch wir von der Besatzung der Sea-Watch 4 werden nun vor Palermo vor Anker liegen, bis wir die Quarantäne und den Covid-19-Test absolviert haben. Das Schiff muss jetzt geputzt werden.
Ich denke, wir dürfen stolz sein auf das, was wir getan haben. Bestimmt wären Menschen ohne den Einsatz der Sea-Watch 4 ertrunken. Die erste Mission des Bündnisschiffes war sehr intensiv und erfolgreich.
Unterstützung aus der Schweiz
Die Idee eines kirchlichen Seenotrettungsschiffs im Mittelmeer geht auf den evangelischen Kirchentag in Dortmund 2019 zurück. Finanziert wurde es vom Bündnis «United4Rescue». Im Januar 2020 ersteigerte das Bündnis das Schiff für 1,3 Millionen Euro, darunter 1,1 Millionen Euro Spendengelder des Bündnisses, dem mittlerweile über 500 Organisationen und Unternehmen angehören. Die Evangelische Kirche Deutschland hatte zu Spenden für das Schiff aufgerufen, bei denen sich auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz und die Schweizer Bischofskonferenz beteiligten. 26 feste und ehrenamtliche Mitarbeiter aus mehreren europäischen Ländern sind auf den jeweils vierwöchigen Rettungseinsätzen dabei. Es wird auf dem Schiff unter anderem einen Schutzbereich mit 24 Betten speziell für Frauen und Kinder geben und eine Krankenstation, die zwei Behandlungsplätze umfasst.