Spezial 06. August 2020, von Constanze Broelemann

Weit wie das Meer

Blog Seenotizen

Kurz vor dem Auslaufen der «Sea-Watch 4» schwimmt Constanze Broelemann im Meer und fragt sich, wie sich die Perspektive auf das Meer von Bord des Rettungsschiffes verändern wird.

Wenn ich in diesen Tagen täglich im Mittelmeer schwimme, überlege ich mir oft, wie es wohl sein wird, das Meer, wenn ich erstmal an Bord der «Sea-Watch 4» bin. Immer noch so schön, so erfrischend und bewegt wie in diesen heißen Sommertagen hier an Land in Spanien? Oder doch eher undurchdringlich, Nichts am Horizont freigebend, fast unerträglich unendlich. Gefährlich.

Blog Seenotzien

Blog Seenotzien

Im August 2020 läuft das mit kirchlichen Spenden finanzierte Seenotrettungsschiff «Sea-Watch 4» zu seiner ersten Mission aus. Die «reformiert.»-Redaktorin Constanze Broelemann ist für reformiert.info und evangelisch.de an Bord und berichtet vom Schiff in ihrem Blog «Seenotizen».

www.reformiert.info/seenotizen

«Bewegt euch noch soviel wie möglich», wurde uns gestern von einem Crew-Mitglied ans Herz gelegt. Denn unsere Bewegungsfreiheit wird an Bord des Rettungsschiffes noch mehr eingeschränkt sein als jetzt schon.

Derzeit können wir mit Schutzmasken noch unsere überhitzte Wohnung in Burriana Richtung Strand und Meer verlassen. Nehmen einen 30-minütigen Weg unter die Füße und denken: «Geniessen wir das, bald ist es vorbei.»

Am Strand sitzen die spanischen Familien, plaudern, spielen und schwimmen in diesem ungewöhlichen Sommer nach ihren Möglichkeiten. Holzpflöcke markieren die Liegeabstände am Strand, die Strandwacht patroulliert und die Masken nehmen einem manchmal die eh schon wenig erfrischende Luft zum Atmen. Und trotzdem: Das Meer ist immer ein Traum. Meiner jedefalls. Doch schon jetzt weiss ich, dass ich eine andere Seite von diesem unfassbar schönen, aber auch uneinschätzbarem Element kennenlernen werde.

Kirchliches Engagement

Die Idee eines kirchlichen Seenotrettungsschiffs im Mittelmeer geht auf den evangelischen Kirchentag in Dortmund 2019 zurück. Finanziert wurde es vom Bündnis «United4Rescue». Im Januar 2020 ersteigerte das Bündnis das Schiff für 1,3 Millionen Euro, darunter 1,1 Millionen Euro Spendengelder des Bündnisses, dem mittlerweile über 500 Organisationen und Unternehmen angehören.Die Evangelische Kirche Deutschland hatte zu Spenden für das Schiff aufgerufen, bei denen sich auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz und die Schweizer Bischofskonferenz beteiligten.

Das ehemalige Forschungsschiff war am 20. Februar in Kiel getauft worden. Nach den ursprünglichen Plänen sollte das Schiff schon zu Ostern in See stechen. Dann machten aber die Einschränkungen wegen der Corona-Epidemie dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung.

Die «Sea-Watch 4» kann etwa 300 Flüchtlinge an Bord unterbringen. Bei akuten Notfällen können es für kurze Zeit aber auch bis zu 900 sein. 26 feste und ehrenamtliche Mitarbeiter aus mehreren europäischen Ländern sind auf den jeweils vierwöchigen Einsätzen dabei. Es wird auf dem Schiff unter anderem einen Schutzbereich mit 24 Betten speziell für Frauen und Kinder geben und eine Krankenstation, die zwei Behandlungsplätze umfasst.

Auf meinem E-Book wird mir heute ein Text aus dem Markusevangelium, Kapitel 4, Verse 35 bis 41 angezeigt. Die «Stillung des Seesturms» - wie passend, denke ich. In der Erzählung fahren Jesus und seine Jünger auf den See Genezareth, als ein gewaltiger Sturm losbricht. Das Boot läuft mit Wasser voll und droht zu kentern. Die Jünger werden panisch. Und was macht Jesus? Der liegt an Bord auf einem Kissen und schläft.

Ist der wahnsinnig oder ist ihm sogar auf einmal alles egal? Die Jünger zerren so lange an ihm bis er auchwacht. Das tut er dann auch und gebietet dem Wind Einhalt, indem er wortgewaltig sagt: «Sei still! Schweig!» Sofort legte sich der Sturm und es wird ganz still, schreibt die Bibel. Fast überrascht fragt Jesus seine Jünger: «Warum habt ihr Angst? Habt ihr denn immer noch kein Vertauen zu mir?»

Gegen Piraterie und Terroranschlägen

Als Vorbereitung für die Mission der «Sea-Watch 4» haben wir Sicherheitsschuhe gekauft, die wir an Bord tragen müssen, alle möglichen Impfungen bekommen, die Telefonnummern unserer Angehörigen notiert und sogar ein «Security Awareness Certificate» online abgeschlossen. Das ist obligatorisch für alle Crew-Member.

Hier erfuhr ich von den Gefahren auf See. Von Piraterie, über Terroranschläge bis hin zu blinden Passagieren. Seit den Terroranschlägen vom September 2001 sind die Sicherheitsauflagen auf dem Meer nochmals verstärkt worden. Auch das Kennenlernen der Entführung des Kreuzfahrtschiffes «Achille Lauro» vom Oktober 1985 ist Teil der Übung. Ein wenig mulmig wurde mir schon beim Absolvieren dieses Zertifikates, das unsere Aufmerksamkeit für die Sicherheit an Bord schulen soll. Andereseits habe ich das Gefühl, dass die Crew alles Mögliche macht, um das Gefahrenriskiko zu mindern. Der Rest ist eben Vertrauen.

Sea Watch

Sea Watch e.V. ist eine Non-Profit-Organisation, die zivile Such- und Rettungseinsätze im europäischen Mittelmeer durchführt. Der Verein fordert und forciert Rettung von Menschen durch staatliche europäische Institutionen. Sea Watch will sichere und legale Fluchtwege (#SafePassage) und Bewegungsfreiheit in offenen europäischen Gesellschaften, die sich zur Solidarität bekennen. Finanziert wird die Arbeit des Vereins ausschliesslich durch Spenden.

Mehr zu diesem Thema

Gestrandet in Europa und auf der Suche nach Heimat – wie es den aus der Seenot Geretteten ergeht.
31. Dezember 2021, von Constanze Broelemann

Gestrandet in Europa und auf der Suche nach Heimat – wie es den aus der Seenot Geretteten ergeht.

Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan kritisiert Migrationskurs: «Europa bricht mit seinen Werten»
31. Dezember 2021, von Cornelia Krause, Felix Reich

Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan kritisiert Migrationskurs: «Europa bricht mit seinen Werten»

Die Aktivistin Rebecca Berker und der Migrationsexperte Gerald Knaus kämpfen gegen das Sterben auf dem Mittelmeer. In der Reportage von «reformiert.» erzählen sie von ihren Erfahrungen, Visionen, Erfolgen und Frustrationen. (Fotos: Thomas Lohnes/epd)
26. November 2020, von Constanze Broelemann, Cornelia Krause

Wie sich eine Aktivistin und ein Politologe für eine humane Migrationspolitik engagieren

Die Armut trieb ihn ins Chaos von Lybien – gerettet auf der Flucht im Mittelmeer
26. November 2020, von Constanze Broelemann

Die Armut trieb ihn ins Chaos von Lybien – gerettet auf der Flucht im Mittelmeer

Nun will sie mit ihrem Sohn nach Frankreich – gerettet auf der Flucht im Mittelmeer
26. November 2020, von Constanze Broelemann

Nun will sie mit ihrem Sohn nach Frankreich – gerettet auf der Flucht im Mittelmeer

Festgesetzte Seenotretter werfen Behörden Schikane vor
20. September 2020, von Constanze Broelemann

Festgesetzte Seenotretter werfen Behörden Schikane vor

Lage an Bord eines Rettungsschiffs gerät ausser Kontrolle
17. September 2020, von Constanze Broelemann

Lage an Bord eines Rettungsschiffs gerät ausser Kontrolle

Ruhige Tage nach der anstrengenden Rettungsmission
09. September 2020, von Constanze Broelemann

Ruhige Tage nach der anstrengenden Rettungsmission

Umstrittener Einsatz des Kirchenschiffs im Mittelmeer
03. September 2020, von Sandra Hohendahl-Tesch

Umstrittener Einsatz des Kirchenschiffs im Mittelmeer

Das Rettungsschiff der Kirche hat seine erste Mission erfüllt
03. September 2020, von Constanze Broelemann

Das Rettungsschiff der Kirche hat seine erste Mission erfüllt

Kirchliches Rettungsschiff findet einen sicheren Hafen
01. September 2020, von Constanze Broelemann

Kirchliches Rettungsschiff findet einen sicheren Hafen

Seenotizen 12: Die «Sea-Watch 4» nahm weitere 150 Flüchtlinge auf und wartet auf eine Anlaufstelle.
31. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 12: Die «Sea-Watch 4» nahm weitere 150 Flüchtlinge auf und wartet auf eine Anlaufstelle.

Seenotizen 11: Die Stimmung an Bord der «Sea-Watch 4» schwanke zwischen gut und angespannt.
31. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 11: Die Stimmung an Bord der «Sea-Watch 4» schwanke zwischen gut und angespannt.

Seenotizen 10: «Sea-Watch 4» sucht mit rund 200 Gerettten an Bord nun einen sicheren Hafen
25. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 10: «Sea-Watch 4» sucht mit rund 200 Gerettten an Bord nun einen sicheren Hafen

Seenotizen 8: «Sea-Watch 4» rettet sieben Menschen aus der Seenot und nimmt sie an Bord.
23. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 8: «Sea-Watch 4» rettet sieben Menschen aus der Seenot und nimmt sie an Bord.

Seenotizen 9: Zweite Rettung der «Sea-Watch 4» in weniger als 24 Stunden
23. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 9: Zweite Rettung der «Sea-Watch 4» in weniger als 24 Stunden

Seenotizen 7: Die «Sea-Watch 4» hat ihr Einsatzgebiet erreicht. Ein erster Notruf erreicht die Crew.
21. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 7: Die «Sea-Watch 4» hat ihr Einsatzgebiet erreicht. Ein erster Notruf erreicht die Crew.

Seenotizen 6: Zwischen Europa und Afrika - «Sea-Watch 4» bald im Einsatzgebiet
21. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 6: Zwischen Europa und Afrika - «Sea-Watch 4» bald im Einsatzgebiet

Seenotizen 5: «Es gibt keinen unpolitischen Raum»: Die «Sea-Watch 4» ist auf hoher See.
18. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 5: «Es gibt keinen unpolitischen Raum»: Die «Sea-Watch 4» ist auf hoher See.

Seenotizen 4: Was die Belegschaft auf der «Sea-Watch 4» auf ihrer Mission erwartet, ist ungewiss.
14. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 4: Was die Belegschaft auf der «Sea-Watch 4» auf ihrer Mission erwartet, ist ungewiss.

Seenotizen 3: «Ärzte ohne Grenzen» unterstützt neu die erste Mission der «Sea-Watch 4»
07. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 3: «Ärzte ohne Grenzen» unterstützt neu die erste Mission der «Sea-Watch 4»

Seenotizen 1: Die «Sea-Watch 4» liegt in Spanien noch vor Anker. Die letzten Vorbereitungen laufen.
04. August 2020, von Constanze Broelemann

Seenotizen 1: Die «Sea-Watch 4» liegt in Spanien noch vor Anker. Die letzten Vorbereitungen laufen.