Schwerpunkt 29. Juni 2018, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Ein Symbol für Vollständigkeit»

Sieben

In der christlich-jüdischen Tradition stehe sie für Ganzheit, sagt Daria Pezzoli-Olgiati. Auch in der ausgeklügelten Zahlenspielerei der Offenbarung.

Spielt die besondere Zahl Sieben auch in der Bibel eine Rolle?

Daria Pezzoli-Olgiati: Zahlen spielen in allen Religionen und Kulturen eine wichtige Rolle, als praktische Hilfsmittel und im abstrakten Denken. Ausserdem haben Zahlen häufig eine symbolische Bedeutung im Alltag von Menschen und in der Religion. So erstaunt es nicht, dass die Zahl Sieben in vielen Schriften der Bibel vorkommt.

Welche Bedeutung wird ihr zugeschrieben?

In der Bibel wird die Sieben mit Vollständigkeit und Ganzheit verbunden. In diesem Sinne meint Sieben «ganz viele» oder «alles».

Laut der Bibel schuf Gott die Welt in sieben Tagen.

Damit wird betont: Gottes Schöpfung ist vollständig. Die Schöpfungsgeschichte in der Genesis verbindet die Woche mit ihren sieben Tagen mit der Vollständigkeit von Gottes Schöpfungstätigkeit. Das Uni­versum ist das Ergebnis dieses Schöpfungsaktes. Nach den sieben Schöpfungsschritten ist das Ganze da, und Gott ruht sich aus.

Wo kommt die Sieben noch vor?

Im 41. Kapitel der Genesis werden die Träume des ägyptischen Pharao erzählt. Da er sie nicht deuten kann, wird Joseph gerufen, der den Ruf eines ausgezeichneten Traumdeuters hat. In dieser Erzählung wird die Sieben im Positiven und im Negativen verwendet. Der Pharao träumt von sieben fetten und sieben mageren Kühen, von sieben schönen und sieben dünnen Ähren. Diese werden als sieben Überfluss- beziehungsweise Hungerjahre gedeutet. Auf eine positive Phase folgt eine destruktive. Die Siebnerzahl drückt aus, wie einschneidend beide sind.

Aus welchen Gründen ist die Sieben ein Symbol für Vollständigkeit?

Über den Ursprung von symbolischen Bedeutungen in Religionen kann man nur spekulieren. Für die Zahl Sieben sind möglicherweise die Beobachtung der Bewegungen der Himmelskörper und die Erfindung des Kalenders wichtig. Die Woche mit sieben Tagen entspricht einer Mondphase, da im Mondkalender der Monat 28 Tage hat. Wenn die Sieben mit dem Rhythmus der Mondphasen zu tun hat, kommen in dieser Zahl Zeit und Raum zusammen – zwei fundamentale Dimensionen des Lebens. Damit wird der Kosmos geordnet und berechen­bar, was Orientierung stiftet.

Was bedeutet die Sieben in der Johannes-Offenbarung, zu der Sie geforscht haben?

Die Sieben ist in der Offenbarung sehr dominant. Das letzte Buch der Bibel ist in Briefform an sieben christliche Gemeinden in der damaligen römischen Provinz Asia adressiert. Der Verfasser möchte sie ermutigen und trösten. Es handelt sich um sieben konkrete Gemeinden, die man heute noch auf einer Karte orten kann. Aber symbolisch bedeutet es auch, dass die Visionen der Endzeit und des Heils, die der Verfasser beschreibt, für alle Christen relevant sind.

«Die Zahlensymbole der Offenbarung sind eine Einladung, die Zahlen und die Welt zu deuten.»

Daria Pezzoli-Olgiati, Religionswissenschaftlerin

Die Offenbarung zeichnet sich durch eine schwer verständliche Bild­sprache aus. Auf welche Weise ist die Sieben darin verwoben?

Eine zentrale Figur des Textes ist das Lamm, das auf Jesus Christus verweist. Es hat sieben Augen und Hörner (Off 5,6).  Die Deutung liefert der Text selbst: Es sind die sieben Geister Gottes, die zu allen auf der Erde gesandt wurden. Ich sehe darin ein Sinnbild der Vollständigkeit von Gottes Zuwendung zu den Menschen. Aber auch das wilde Tier, das aus dem Meer heraufsteigt, hat sieben Köpfe (Off 13,1). Auch hier gilt der Verweis auf Totalität und Ganzheit: Das Tier ist ein bedrohliches, äusserst mächtiges Bild einer zerstörerischen Macht.

Von welcher zerstörerischen Macht ist die Rede?

Das römische Reich, das damals einen ökonomischen Aufschwung erlebte. Die Offenbarung wurde wahr­­scheinlich im Jahr 96 nach Christus geschrieben. Damals standen die Christen vor dem Problem: Passten sie sich der römischen Kultur an, lief es für sie geschäftlich gut, aber sie verleugneten ihren Glauben. Johannes empfiehlt ihnen jedoch, von Beziehungen mit dem römischen «Tier» abzusehen. Dann müssen sie aber die politischen und ökonomischen Konsequenzen ziehen und in eine alternative Kultur eintreten.

Die Offenbarung wird auch als Buch mit sieben Siegeln bezeichnet.

Die sieben apokalyptischen Siegel bringen eine Dramaturgie in die Erzählung: Sie werden eins nach dem anderen geöffnet, und jedes Mal wird eine erstaunliche Vision für die Endzeit enthüllt. Dies erweckt eine Erwartungshaltung bei den Lesenden: Was kommt noch, wie viele Siegel fehlen? Dieses Buch betreibt das Spiel mit der Symbolik verschiedener Zahlen exzessiv.

Mit welchen anderen Zahlen spielt die Offenbarung sonst noch?

Etwa dreieinhalb, die Hälfte von Sieben. Diese Zahl kommt in Off 11,2 und 13,5 in der Gestalt von 42 Monaten vor, was dreieinhalb Jahren entspricht. Ähnlich funktioniert es mit den 1260 Tagen aus Off 12,6. Beide Stellen verweisen auf Zeiten der Bedrängnis. Diese dauern zwar lange, aber nicht ewig – es ist ja nur die Hälfte von Sieben, eine unvollständige, erträgliche Zahl. Natürlich kommt auch 666 vor.

Die Zahl des Teufels?

In der Offenbarung ist sie die Zahl des wilden Tieres. Was sie bedeutet, lässt sich nicht eindeutig erschliessen. Sie kann mit Zahlentechniken in Verbindung gebracht werden, die in der Antike eine eigene Wissenssparte darstellten. Im Griechischen, in der Sprache der Offenbarung, gab es keine Ziffern. Zahlen wurden mit Buchstaben geschrieben. So bedeutet «Aleph» – der erste Buchstabe des Alphabets – eins. Der Buchstabe «Zeta» bedeutet sieben. Dies eröffnet unzählige kreative Möglichkeiten: Ein Wort ist auch eine Zahlenkombination und erhält zusätzliche Bedeutungen. Lei­der sind die Zahlenspiele der Offenbarung nicht eindeutig.

Was bezwecken sie dann?

Ich bin überzeugt, dass die Zahlensymbole auch eine Einladung an die Lesenden sind, die Zahlen und die Welt zu deuten. Die Offenbarung sagt: Was geordnet erscheint, das römische Reich, ist nicht geordnet. Die Christen sollen eine eigene Ordnung schaffen. Zahlen sind Elemente von Ordnung. So ordnen die sieben Schöpfungstage den Schöpfungsprozess. Die Vollständigkeit der Schöpfung ist kein abstraktes Konzept, es ist zähl- und greif­bar.

Daria Pezzoli-Olgiati, 51

Die Schweizerin ist Professorin für Religionswissenschaft und Religionsgeschichte an der  Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2010 bis 2016 leitete sie das Zentrum für Reli­gion, Wirtschaft und Politik an der Uni Zürich. Zuvor hatte sie in Zürich eine Förderprofessur des Nationalfonds für Religionswissenschaft inne. Daria Pezzoli-Olgiati lebt mit ihrer Familie in Neggio im Malcantone (TI).