«Die Haut ist ein Organ wie ein Schweizer Taschenmesser»

Haut

In seinem Buch «The Remarkable Life of the Skin» rückt der Mediziner Monty Lyman das grösste Organ des Menschen ins Zentrum.

Sie haben ein ganzes Buch der Haut gewidmet. Was macht dieses Organ so besonders?

Monty Lyman: Die Haut ist wie ein Schweizer Taschenmesser, sie hat viele verschiedene Funktionen. Sie ist nicht nur eine wunderschöne, sondern auch eine enorm effektive, etwa zwei Quadratmeter grosse Barriere zwischen uns und der Umwelt. Einmal im Monat erneuert sich die oberste Hautschicht. Sie ist nur einen Millimeter dick und doch stark und völlig wasserdicht. Die Haut ist auch Teil des Immunsystems, Immunzellen bekämpfen Infektionen. Und sie ist der Thermostat unseres Körpers. Je nachdem wie warm oder kalt es ist, ziehen sich ihre Blutgefässe zusammen oder dehnen sich aus. Und schliesslich ist sie natürlich auch ein Sinnesorgan und wichtig für die Kommunikation.

Dennoch wurde die Dermatologie lange nicht so ernst genommen wie andere Disziplinen, wie Sie in Ihrem Buch schreiben. Warum?

Ein befreundeter Chirurg scherzte stets, die Haut sei eine Art Geschenkpapier, das nur die wichtigen Organe umhülle. In diese Richtung ging auch lange die vorherrschende Meinung in Grossbritannien und auch in anderen westlichen Ländern. Die Haut wurde als eines der letzten Organe anerkannt. Diese Sichtweise hat sich in den letzten Jahrzehnten aber geändert.

Wie kommt das?

Wir wissen heutzutage mehr darüber, wie das Immunsystem funktioniert. Dieses Wissen und auch neue Methoden in der Forschung haben zu immer neuen Erkenntnissen geführt. Gegen Schuppenflechte und Ekzeme können wir beispielsweise Antikörper einsetzen. Diese Krankheiten machten früher in schweren Fällen Krankenhausaufenthalte nötig. Heutzutage gibt es kaum mehr stationäre Dermatologieabteilungen, da wir Wege gefunden haben, diese Krankheiten ambulant zu behandeln. Auch beim Thema Hautkrebs gibt es riesige Fortschritte. 

Monty Lyman, 30

Der britische Mediziner und Autor hat neben dem in Grossbritannien viel beachteten Buch «The Remarkable Life of the Skin» (2019) jüngst ein zweites Buch zum Thema Schmerz veröffentlicht. Studiert hat er unter anderem am Imperial College London und an der Universität Oxford. Für Letztere arbeitet er derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter. 

Betrifft Hautkrebs nicht immer mehr Menschen?

Das ist so. Das liegt aber nicht am Forschungsstand, im Gegenteil. Früher waren die Überlebenschancen bei einem malignen Melanom viel schlechter als heute, wo es sehr effiziente Immuntherapien gibt, bei denen das Immunsystem die Krebszellen bekämpft. Das Problem ist, dass sich die Menschen zu viel der Sonne beziehungsweise UV-Strahlen aussetzen. Jüngst habe ich gelesen, dass sich die Zahl der Menschen, die in Grossbritannien in Solarien gehen, in den vergangenen zehn Jahren gar verdoppelt hat. Der Mensch ist sehr schlecht darin, langfristige Risiken, wie etwa Hautkrebs, einzuschätzen.

Dabei ist die Sonneneinstrahlung auch ein wichtiger Faktor mit Blick auf das Altern der Haut.

Sogar der wichtigste überhaupt. Studien haben gezeigt, dass sich Menschen eher dazu motivieren lassen, Sonnencreme zu verwenden, wenn man den Anti-Aging-Aspekt in den Vordergrund stellt. Vielleicht wäre es besser, in Hautkrebs-Präventionskampagnen die Eitelkeit der Menschen anzusprechen. Es gibt keine bessere Anti-Aging-Creme als Sonnencreme. Egal wie viel Geld man für teure Produkte ausgibt.

Einigen Beschwerden sagt man auch psychische Ursachen nach, etwa Neurodermitis oder Ekzemen. Gibt es tatsächlich eine Achse zwischen Hirn und «Hülle»?

Studien haben gezeigt, dass in Stresssituationen Immunzellen aktiviert werden, die vom Rückenmark bis zur Haut wandern. Das Immunsystem schaltet um und man vermutet, dass deshalb entzündliche Prozesse aktiviert werden. Manchmal entsteht ein regelrechter Teufelskreis. Der Stress über die Krankheit, die äusserlich sichtbar ist und stigmatisiert, führt dann wiederum zu einer Verschlechterung.

Völlig zu Unrecht werden manche Hautkrankheiten nicht ganz erst genommen.

Viele Hautkrankheiten sind offensichtlich, aber nicht lebensbedrohlich. Wie gehen Ärzte damit um?

Völlig zu Unrecht werden manche Hautkrankheiten nicht ganz ernst genommen, weil sie nicht lebensbedrohlich sind. Akne etwa wird oft verharmlost, weil sie als ein vorübergehendes Phänomen gilt. Doch Personen mit Akne tragen sich häufiger mit Suizidgedanken als nicht betroffene Altersgenossen. Oder die Weissfleckenkrankheit Vitiligo: Eine Frau aus Pakistan hatte Angst, deswegen nie heiraten zu können. Hautkrankheiten können psychische Krankheiten auslösen oder sie verschlimmern. Die Dermatologie arbeitet ebenso wie die Psychologie in Grossbritannien als eine der ersten medizinischen Disziplinen mit einem Index zur Lebensqualität.

Wie funktioniert das?

Patientinnen und Patienten füllen einen Fragebogen aus. Damit kann man eruieren, wie stark die Person seelisch unter den Beschwerden leidet. Die psychischen Narben mancher Patienten bleiben ihnen fürs Leben, selbst wenn die Akne zum Beispiel verheilt ist.

Dennoch gibt es auch positive Entwicklungen beim Umgang mit stigmatisierenden Hautkrankheiten: Lego verkauft Spielfiguren mit Vitiligo, auf Zalando modeln Menschen mit der Pigmentstörung. Wird die Gesellschaft offener?

Es gab Organisationen, zu denen sich Betroffene zusammenschlossen, die sehr erfolgreiche Kampagnen ge­fahren haben, inzwischen wird Vitiligo anders wahrgenommen als noch vor Jahren. Aber die Toleranz der Gesellschaft ist paradox. In den sozialen Medien wird mehr denn je ein perfektes Hautbild propa­giert. Der Druck, dem Ideal oder we­nigs­tens der Norm zu entsprechen, wird immer grösser.

Heutzutage nutzen Menschen Tattoos, um ihr Innerstes nach aussen zu tragen.

Zu Beginn sprachen Sie auch die Kommunikation an. Wie kommunizieren wir mit unserer Haut?

Einerseits unbewusst, beispielsweise wenn wir erröten, weil uns etwas peinlich ist. Das Rotwerden ist für den Betroffenen sehr unangenehm. Aber im Grunde ist es eine gute Sache. Studien zeigten, dass das Erröten von anderen als etwas Positives wahrgenommen wird. Es bedeutet, dass der Mensch versteht, dass soeben eine soziale Norm verletzt wur­de, egal ob von ihm selbst oder anderen. Die Fähigkeit, das zu erkennen, macht uns sympathisch. Andererseits gibt es die offensichtliche, bewusste Kommunikation.

Und wie kommunizieren wir bewusst mit unserer Haut?

Tattoos. Seit Tausenden von Jahren möchten Menschen ihre Haut markieren. Schon die Gletschermumie Ötzi hatte über 60 Tattoos. Er lebte vor mehr als 5000 Jahren. Man vermutet, dass manche seiner Tattoos Verletzungen markierten, andere stimmen mit Akupunkturpunkten überein. In der Kolonialzeit wurden Tattoos durch den Schiffshandel en vogue, Matrosen kehrten mit Tattoos heim, oft sollten sie Glück bringen. «Hold fast» liessen sich viele auf die Fingergelenke tätowieren, damit sie beim Festhalten an der Takelage daran erinnert wurden.

Wie erklären Sie sich den Tattoo-Boom in der heutigen Zeit?

Heute nutzen Menschen Tattoos, um ihr Innerstes nach aussen zu tragen, zu zeigen, was ihnen wichtig ist, sei es der Fussballclub oder der Name des eigenen Kindes. Tätowierungen sind manchmal aber auch eine Nachricht ans eigene Ich. An der Grenze zwischen Indien und Myanmar traf ich einst einen etwa 100 Jahre alten Mann, einen Kopfjäger. Er sagte mir, seine Tattoos in Form von Tigerstreifen seien sein wichtigster Besitz, das Einzige, was er ins nächste Leben mitnehmen könne.

Das Zeigen oder Verstecken von Haut, auf diese Frage finden die Weltregionen sehr unterschiedliche Antworten.

Also fast schon spirituell?

Ja, Haut hat definitiv eine spirituelle Komponente. Auf einer meiner Reisen sah ich auf einer Strasse in Kalkutta einen Hindu-Priester, er sass ganz nackt auf einer Matte am Boden, ins Gebet versunken. Vor ihm lief eine Gruppe muslimischer Frauen vorbei, alle waren sie komplett in Burkas verhüllt. Das Zeigen oder Verstecken von Haut, auf diese Frage finden die Weltregionen sehr unterschiedliche Antworten.

Wie steht es um die Interpretation von Haut im Christentum?

Nach dem Sündenfall in Genesis war Nacktheit schambehaftet, Adam und Eva verhüllten sich. Doch die Haut spielt auch in anderen Geschichten eine Rolle, insbesondere Hautkrankheiten. Hiob etwa, der von einem ganz üblen Juckreiz geplagt wird. Und auch die Infektionskrankheit Lepra wird in der Bibel an verschiedenen Stellen erwähnt.

Warum ausgerechnet Lepra?

Das ist interessant, eigentlich ist Lepra nicht gar so ansteckend, wie man denkt. Aber die Krankheit entstellt die Betroffenen. Viele Leprakranke wurden isoliert, mussten als Aussätzige abseits der Gemeinschaft leben. Leprakranke galten in der Bibel als Sünder.

Deren sich Jesus dennoch annahm.

Genau. Es geht nicht allein um die Heilung einer Krankheit, sondern darum, dass Jesus denen die Hand reicht, die am tiefsten gefallen sind. Dass den Sündern vergeben wird.