Auf dem schmalen Grat zur Versehrtheit

Haut

Sie schützt, er­möglicht sinnliche Erfahrungen und spiegelt die Identität wider. Aber sie kann auch stigmatisieren, wenn sie nicht Idealen entspricht oder normal scheint.

Zu den Kindheitserinnerungen gehört zweifelsfrei die blutige Kruste, die sich jeweils bildete nach einem schmerzhaften Sturz aufs Knie. Die mahnenden Worte der Eltern, die Kruste sein zu lassen, obwohl es eine eigentümliche Freude bereitete, sie wegzukratzen und zu beobachten, wie sich die schneeweisse Stelle darunter sofort mit hellroten Blutpunkten bedeckte.

Wundheilung ist ein Wunder, das die Haut vollbringt. Selbst der kleinste Schnitt im Finger schmerzt, offenbart den schmalen Grat zwischen körperlicher Versehrtheit und Unversehrtheit. Die Haut umhüllt den Körper, hält Schädliches fern. Zugleich ist sie Tor zur Aussenwelt. Sie ermöglicht es uns, Dinge zu ertasten, Berührungen wahrzunehmen.

Organ der Sinnlichkeit

Haut ist Leidenschaft. Kaum ein Liebesroman, der mich mehr berührte, ja mehr unter die Haut ging als «Salz auf unserer Haut» von der französischen Autorin Benoîte Groult. Die Haut wird zur Metapher für die tiefen sinnlichen Erfahrungen, welche die Protagonistin George während ihrer Aufenthalte in der Bretagne macht: die raue Berührung des Salzwassers, das Gefühl des Windes auf der Haut, das Versinken in leidenschaftlichen Momenten mit ihrem Liebhaber Gauvain.

Die spirituelle Kraft der biblischen Geschichten lassen sich ins Hier und Jetzt übertragen.

Die Haut steht auch für die Persönlichkeit, eine sprichwörtlich ehrliche Haut ist ein ehrlicher Mensch. Ist jemand dünnhäutig, reagiert er empfindlich auf Kritik, ist schnell beleidigt oder emotional. Wer hingegen eine dicke Haut hat, lässt sich nicht so leicht erschüttern. Der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu prägte den Begriff «Haut-Ich». Es beschreibt die Vorstellung, dass ein Baby – ausgehend von seiner Erfahrung der Körperoberfläche – eine Vorstellung von sich selbst als Ich entwickelt. Die Haut spielt somit eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins und der Identität.

Strafe Gottes

Eine strahlende Haut gilt als Zeichen für Gesundheit und Jugend. Im Umkehrschluss kommt der Haut unweigerlich eine stigmatisierende Rolle zu, dann nämlich, wenn sie alles andere als makellos ist, keinem Schönheitsideal entspricht. Wenn sie Narben aufweist, zum Beispiel durch Verbrennungen oder Selbstverlet­zungen. Oder wenn sie von Krankheiten gezeichnet ist, etwa von Ekzemen, Vitiligo oder Akne. Betroffene Personen kennen das Gefühl, angestarrt zu werden. Wenn hinter ihrem Rücken getuschelt wird. Sich andere mitleidig abwenden.

In der Bibel sind Hautkrankheiten eine Strafe Gottes. Im Alten Testament ist mehrfach von Aussatz die Rede, auch bekannt als Lepra, eine Krankheit, die Flecken und Geschwüre auf der Haut hervorruft. Betroffene wurden früher isoliert, aus den Städten verbannt und mussten reinigende Rituale durchführen. Ein bekanntes Beispiel ist die Geschichte von Mirjam, der Schwester Mose, die mit Aussatz geschlagen wurde (Num 12,10–15). Oder Hiob, der von zahlreichen Leiden heimgesucht wird, darunter auch brennenden Geschwüren und juckendem Ausschlag (Hiob 2,7).

Keine Berührungsängste

Keine Berührungsängste kannte hingegen Jesus. In Matthäus 8,1–4, Markus 1,40–45 und Lukas 5,12–16 wird davon berichtet, wie er einen Aussätzigen heilt, indem er ihn berührt. Die spirituelle Kraft der biblischen Wundergeschichten lassen sich ins Hier und Jetzt übertragen. In der inklusiven Gesellschaft, an der jeder Mensch teilhat, wird die Haut zum Symbol für Offenheit und Vielfalt. Zu einem Ort für selbstbewusste Haut-Ichs.