Über die Pause kann Reto Bieri pausenlos reden. Sie beschäftigt ihn seit Jahrzehnten. Ein Konzert beginne stets mit einem Moment des Innehaltens. Nach der Vorführung sei die Pause essenziell. Während des Konzerts noch wichtiger.
«Das eigentliche Leben passiert in diesen Zwischenräumen.» Seinen Studierenden erklärt der Professor für Kammermusik die Bedeutung der Pause mit dem Bild des Schaukelstuhls: im Stillstand symbolisiert er die Gegenwart. Rückwärts wippend weist er in die Vergangenheit, vorwärts in die Zukunft.
Doch der kurze Augenblick dazwischen, bevor sich die Richtung ändert, ist Stillstand und Bewegung zugleich. «In dieser Gleichzeitigkeit ist alles möglich, ist nichts kontrollierbar.»
In der Musik gibt es unzählige Arten von Pausen. Reto Bieri nennt drei Grundtypen. Erstens: die Bereitschaftspause. Sie setzt Offenheit voraus, sich auf neue Tendenzen einzulassen. «Der Komponist weiss nicht, wohin sie ihn führt», sagt Bieri und setzt sich ans Klavier. Es steht in seinem «privaten Konzertsaal», wie er ihn nennt, mit Blick auf den Brienzersee. Sanft lässt er die Tasten erklingen. Er hält kurz inne – um dann im Fortissimo in die Tasten zu hämmern.
Ein zweiter Typ ist die Richtungspause. Eine Unterbrechung im Strom der Musik. Hier wird Kraft getankt, bevor es weitergeht. Schliesslich die Wandlungspause. Sie verlangt Entscheide, in welche Richtung es überhaupt weitergeht.
Der Applaus als Katastrophe
Von solchen Pausenphänomenen sei der Mensch ständig umgeben: Ein- und Ausatmen, der Wechsel der Jahreszeiten, Kranksein und Gesundwerden. «In guten Musikstücken ist dieser naturgegebene Kreislauf von Aktion und Innehalten auf phänomenale Art repetiert.» Die grössten Pausen gibt es oft am Ende einer Komposition.
«Der Applaus nach einem Konzert ist eigentlich eine Katastrophe.» Er verhindere die Reflexion, das Nachklingen. Viele Meister der perfekten Pausensetzung wie Haydn, Mozart oder Bach seien übrigens gute Schläfer gewesen, sagt Bieri. Denn Reflexion passiere nicht zuletzt im Schlaf. «Wach kann ich die Stücke einüben, aber erst nach dem Schlaf beherrsche ich sie.»
Als Intendant am Davos Festival ging Bieri der Frage nach, wie wir überhaupt zur Ruhe kommen. Mitten in der Stadt installierte er eine Ruhebox. Unter dem Motto «Heute Ruhetag» lud er Musiker ein, Wiegenlieder zu interpretieren. «Es ist interessant, dass wir ausgerechnet über die Körperbewegung zur Ruhe kommen.» Deren Gleichmässigkeit kombiniert mit dem sonoren Tonfall seien hochmusikalische Phänomene. Wieder taucht das Bild des Schaukelstuhls auf.
Und wie findet der Vielbeschäftigte selber seine Ruhe? «Ich rauche Pfeife, und das nie weniger als eine halbe Stunde.»