Schwerpunkt 27. September 2022, von Stella Cal, 15 Jahre

Und dann rannte Lisa, bis ich nicht mehr konnte

Junges Literaturlabor

Mein altes Leben ist weg. Ich habe es verloren. Wie konnte das passieren? Ich atme tief durch, doch ich kann nicht, die Erinnerungen drohen mich zu überrollen.

Ich stelle mir vor, dass ich nicht mehr ich bin. Ich bin jemand anderes.

Es geht mir gut, ich heisse Lisa, meine Familie ist perfekt, ich bin perfekt, ich bin immer glücklich. Ich bin Lisa. Mir geht es gut. Lisa atmet tief durch, ihr geht es gut, sie lacht, aber niemand sieht es. Lisa hat keine Probleme. Sie ist schlau, schön und alle mögen sie. Meine Augen fangen an zu tränen, ich unterdrücke es. Lisa ist nie traurig.

Als es Lisa noch nicht gab

Ich werde beobachtet, alle Menschen schauen mich an, sie starren, als ob sie mein Inneres sehen könnten. Eine Frau setzt sich neben mich, ich zucke zusammen. Diese Situation gab es schon mal. Damals, als es Lisa noch nicht gab, nur mich, mich und den Moment, kein Davor und auch kein Danach.

Damals, da schaute er mich an, ein Fremder. Er fragte mich nach meiner Hilfe, es sei nur für wenige Minuten. Ich musste eigentlich schnell weiter, da ich schon spät dran war. Aber er, er fragte immer und immer wieder, so konnte ich nicht anders. Er deutete auf einen Tisch, der am Rand der Strasse stand. Er war mir bis dahin gar nicht aufgefallen, so einsam und verlassen. Ich fragte mich, was ich damit soll. Der Mann, der mich fragte, war um die 40, mit eindringlich blauen Augen. Er fasste das eine Ende des Tisches und ich das andere.

Lisa wäre aufgefallen, dass noch andere Menschen auf der Strasse waren, die hätten helfen können. Warum genau hätte der Mann das kleinste Mädchen weit und breit fragen sollen, wenn nebenan starke Männer waren, die etwas putzten?

Die eigene Last tragen

Der Tisch war gar nicht schwer. Der Mann fragte mich, ob ich Sport mache, da ich so stark sei, er beobachtete mich unangenehm. Lisa hätte es bemerkt, sie wäre nicht so dumm gewesen. Ich verneinte, ich war der unsportlichste Mensch, den ich kannte. Plötzlich standen wir vor einer Haustür, drei Treppenstufen trennten uns von ihr. Da begriff ich, ich musste ins Haus eines fremden Mannes. Ist das nicht das, vor dem uns unsere Eltern immer warnen?

Es war zu spät, auf der zweiten Stufe konnte ich den Tisch nicht absetzten. Lisa hätte es trotzdem gemacht. Im Haus gab es keine Möbel, nur Eimer mit Farbe, der ganze Boden war abgedeckt. Warum dann der Tisch? Wir stellten ihn ab. Ich schaute in seine Augen und lächelte unsicher. Er fragte: «Willst du noch zum Essen bleiben?» Für einen Moment verstand ich nicht, ich hatte doch gesagt, ich sei spät dran.

Dann kam Lisa, sie drehte sich um und rannte. Ohne einen Gedanken zu verschwenden, rannte sie aus dem Haus die Treppe runter, weiter, bis ich nicht mehr konnte.

Lisa wäre von Anfang an misstrauisch gewesen. An diesem Punkt erwachte sie zum ersten Mal, Lisa, Fluch und Segen zugleich. Nie mehr war ich danach noch so sorgenfrei, so offen, so glücklich.

Ich habe gelernt, Fehler muss man, wenn man nicht rechtzeitig handelt, dreifach bezahlen. Darum darf Lisa keine Fehler machen. Sie muss alles unter Kontrolle haben. Die traurigen Gefühle, die in mir wü­ten, verwandeln sich in Zorn, in Hass, gegen jeden und alles.

Die Frau neben mir hat sicher auch Probleme, jeder in diesem Bus hat Probleme. Die Welt besteht aus einem Haufen ungelöster Probleme. Wir ignorieren diejenigen der anderen. Wir können sie nicht mittragen, jeder muss seine eigene Last tragen. Man darf nicht liegen bleiben. Wer liegen bleibt, ist verloren.

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