Schwerpunkt 26. März 2024, von Christa Amstutz Gafner

«Gott inkarniert sich immer wieder»

Jesus von Nazaret

Acharya Vidyabhaskar schätzt die christliche Nächstenliebe. Und es fasziniert ihn, wie Jesus am Kreuz das Karma auflöst.

«Das Göttliche oder Gott inkarniert sich immer wieder in der Welt, sagen die hinduistischen Schriften. So steht in einem Vers der Bhagavadgita sinngemäss: Wenn wir uns von ‹Dharma› entfernen, also wenn Gerechtigkeit, Edelmut, Güte abwesend sind, inkarniert sich Gott auf Erden. Dass Jesus eine solche Inkarnation darstellt, ist aus theologisch-philosophischer Sicht im Hinduismus weitgehend unbestritten. 

Jesus kommt sogar vor in einer Schrift aus dem 5. Jahrhundert namens Bhavishya-Purana. Er wird als Sohn Gottes, der von einer Jungfrau geboren wurde, vorgestellt und gibt einem indischen König die Essenz seiner Lehre weiter.

Auch Jesus kann heilig sein

Jesus und auch Maria sind unter den Hindus bekannt und beliebt. In der Schweiz ist zum Beispiel das Kloster Einsiedeln ein wichtiger hinduistischer Pilgerort, besonders für tamilischstämmige Gläubige. 

Acharya Vidyabhaskar, 40

Acharya Vidyabhaskar, 40

Nach der Ausbildung in Indien studierte der Sanskrit-Gelehrte in der Schweiz Religionswissenschaften und Theologie. Er lebt in Winterthur, unterrichtet altindische Philosophie, Sanskrit und Meditation und wirkt bei NGO-Bildungsprojekten in Indien und Nepal mit.

Es ist völlig normal zu sagen, ich gehe heute in den Tempel, und dann in einer Kirche eine Kerze anzuzünden. Oder das Rosenkranzgebet einfach einmal mit der eigenen Gebetskette auszuprobieren. 

Heiligkeit geschieht sehr spontan im Hinduismus. Wenn ich eine Statue von Jesus oder ein Kreuz als heilig empfinde, dann integriere ich das in meine religiöse Welt.

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Das ist auch gegenüber dem Buddhismus so. Seit der Dalai Lama 1959 nach Indien geflüchtet ist, lassen sich viele Hindus von buddhistischen Lehren und Formen der Anbetung inspirieren, ohne ihre eigene Religion zu vernachlässigen. 

Religionswissenschaftlich nennt man dies Synkretismus. Für Hindus ist es ganz natürlich. Denn ihre Religion ist, ausser in neueren politisch-nationalistischen Gruppen, völlig undogmatisch. Es gibt keine zentrale Autorität, die bestimmt, was man darf und was nicht. 

Jesus war mir als Kind genauso vertraut wie die Göttin Tripurasundari, die Meditation oder die vegetarische Ernährung.

Ich selbst bin auch synkretistisch aufgewachsen. Mein Vater ist Hindu mit indischen Wurzeln, meine Mutter stammt aus einer reformierten Schweizer Familie, die sich früh für den Hinduismus interessierte. Jesus war mir also als Kind genauso vertraut wie die Göttin Tripurasundari, die Meditation oder die vegetarische Ernährung.

Vom Christentum inspiriert

Die Nächstenliebe, dass in den Armen, im Leid Gott erkannt wird, finde ich schön am Christentum. Das fehlt mir etwas im Hinduismus. 

Wie im Buddhismus ist der Karmagedanke dort wichtig. Das Alte Testament kennt etwas Ähnliches mit dem ‹Tun-Ergehen-Zusammenhang›. Wir sind verantwortlich für unsere Taten, es geht um Ursache und Wirkung. Was nicht bedeutet, dass es nicht sehr viel Mitgefühl und Liebe gibt in meiner Religion. 

Jesus ist faszinierend, weil er das Karma löscht, Gott durch ihn die Menschen von Sünde und Schuld erlöst. Die Vorstellung der Gnade Gottes gibt es zwar auch im Hinduismus. Über einen Meister oder Guru, einen Erleuchteten kann Gott das Karma löschen. 

Es kann sein, dass diese Idee aus jüngerer Zeit stammt und sogar vom Christentum inspiriert wurde. Wie dem auch sei: Die Theologie vom Kreuz hat für Hindus nichts Sperriges.»