Schwerpunkt 26. März 2024, von Isabelle Berger, Felix Reich

«Jesus ist kein Superstar»

Jesus von Nazaret

Der Theologe und Literaturwissenschaftler Andreas Mauz über die raffinierte Erzählweise der Evangelien, fromme Romane über Jesus und die religiöse Botschaft von Popvideos.

Was ist Ihr liebster Jesus-Roman?

Andreas Mauz: «Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus» von Philip Pullman. Was theologisch zusammengehalten werden muss, wird hier in eine Zwillingsgeschichte gepackt: Jesus und Christus. Jesus ist der einfache Prediger und ein Menschenfreund, Christus sein Evangelist. Er schreibt Jesu Taten und Wort auf, aber auch um, weil er an eine bestimmte Wirkung denkt. Der Roman zeigt das Gewicht des Making-of: Wenn die Geschichte des Gottessohnes überdauern soll, muss sie verschriftlicht werden. Aber damit sind ganz wichtige Fragen verbunden: Wer bezeugt das Geschehene? Wie wird es in der Darstellung gestaltet und damit gedeutet?

Können Evangelien als literarische Texte gelesen werden? Ihr Anspruch ist ja ein anderer: Sie wollen eine Heilsgeschichte erzählen.

Ja und nein. Wenn wir ein modernes Literaturverständnis nehmen, wollen sie tatsächlich mehr sein. Zugleich bleiben sie Erzählungen wie andere auch. Die Verschriftlichung der mündlichen Erzähltraditionen war für die frühe Kirche ein wichtiger Akt. Aber im Alltag las niemand ein Evangelium von vorn bis hinten. Die Schrift war das Medium der Elite. Die Geschichten wurden in den Gemeinden einzeln ausgelegt. Ihre literarische Raffinesse blieb da wohl verborgen. In der Kanonisierung haben sich aber jene Texte durchgesetzt, die erzählerisch besonders überzeugen.

Jesus-Literatur – die Lesetipps von Andreas Mauz

Der Grossinquisitor: Fjodor Dostojewski, Erzählung, 1880

Pilatus: Friedrich Dürrenmatt, Erzählung, 1949

Mirjam: Mirjam Luise Rinser, Roman, 1983

Die Bibel nach Biff. Die wilden Jugendjahre von Jesus, erzählt von seinem besten Freund: Christopher Moore, Jugendbuch, 2002

Consummatus: Sybille Lewitscharoff, Roman, 2006

Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus: Philip Pullman, Roman, 2010

Punk Rock Jesus: Sean Murphy, Comic-Miniserie, 2013

Hat die Jesus-Erzählung selbst literarische Vorbilder? Eine klassische Heldengeschichte ist sie ja nicht.

Die Frage ist, ob es überhaupt so etwas wie originelle Dramaturgien gibt. Aufstieg und Fall, Verrat und Errettung kennen wir etwa aus dem Alten Testament. Die Originalität der Evangelien liegt darin, dass die Geschichte eines Missverstandenen und Scheiternden als Heilsgeschichte präsentiert wird. Der gekreuzigte Gottessohn ist kein Superstar wie die antiken Halbgötter.

Wann beginnt die Fortschreibung und Verarbeitung der Evangelien in der literarischen Tradition?

Da gibt es keine Pause. Schon sehr früh wurde versucht, die Evangelien zu harmonisieren. Es ist ja schon bemerkenswert, dass die kanonischen Evangelien die Jesus-Geschichte in vier Varianten erzählen, die sich ergänzen, bestätigen, teilweise aber auch widersprechen. Es folgen lateinische und volkssprachliche Bibel-Epen: Gottfried von Weissenburg, der Autor des Evangelienbuches aus dem 9. Jahrhundert, gilt als der erste deutsche Dichter, den wir namentlich kennen. Im Hochmittelalter entsteht das geistliche Spiel, im 18. Jahrhundert dann monumentale Werke wie «Der Messias» von Klopstock. Im 20. Jahrhundert taucht schliesslich der Jesus-Roman in einer enormen Dichte und Breite auf.

Andreas Mauz, 50

Andreas Mauz, 50

Der Theologe und Germanist hat am Institut für Hermeneutik und Religionsphilologie der Theologischen Fakultät Zürich gearbeitet. Er lehrt an Universitäten und ist als Critical-Thinking-Vermittler und Herausgeber tätig.

Gilt es da nicht zu unterscheiden? Klopstock schrieb mit dem «Messias» religiöse Literatur. In der Moderne hingegen diente Jesus als Vorlage für eine gute Geschichte.

Die simple Gegenüberstellung – da religiös, da säkular – verpasst leicht die Eigenart eines Werks. «Die letzte Versuchung» von Nikos Kazantzakis zählt zu den erfolgreichsten und kontroversen Jesus-Romanen des 20. Jahrhunderts. Der Vatikan setzte das Buch auf den Index. Kazantzakis verstand sich aber als frommer orthodoxer Christ. Und sein Roman verhandelt dazu die klassischen theologischen Fragen.

Weshalb eckte er trotzdem an?

Kazantzakis fokussiert auf Jesus als Mann und damit auch auf die Liebesbeziehung mit Maria Magdalena. Die Versuchung besteht darin, dass er sich das Kreuz ersparen und mit Maria eine Familie gründen könnte. Er widersteht dieser Versuchung. Rom störte sich an den erotischen Passagen, da spielte das theologisch korrekte Finale keine Rolle mehr. Der Roman ist hervorragend konstruiert. Er füllt eine Lücke der biblischen Überlieferung: Maria Magdalena ist eine wichtige Figur, doch ihre Beziehung zu Jesus wird kaum ausgeleuchtet. Wie wir auch kaum etwas von der Kindheit und Pubertät Jesu erfahren. Auch in diese Lücken springen viele Romane.

Wo würde Jesus heute auftauchen? Und woran würden wir ihn erkennen? Würden wir ihn überhaupt erkennen?

Auf Bildern und Fotografien ist Jesus dank Codes schnell erkennbar. Gibt es solche leicht lesbaren Merkmale auch in der Literatur?

Die visuellen Codes korrespondieren mit dem Phantombild, das wir in unserem kulturellen Bildarchiv haben. In der Literatur übernehmen Handlungsmotive diese Funktion. Ein Beispiel dazu: In Thomas Manns «Zauberberg» versammelt die Figur Mynheer Peeperkorn seine zwölf «Jünger» um sich, dann wird gegessen und reichlich Wein getrunken. Und bald darauf stirbt Peeperkorn. Was mir an den Fotos von David LaChapelle gefällt: Er verlegt die neutestamentlichen Szenen in die heutige Grossstadt, Jesus wird dennoch als historische Figur inszeniert. Er scheint zu fragen: Wo würde Jesus heute auftauchen? Und woran würden wir ihn erkennen? Würden wir ihn überhaupt erkennen?

Hier taucht er in der Subkultur auf.

Natürlich spielt LaChapelle mit den kulturellen Codes. Ich sehe hier aber dennoch ein ganz frommes Projekt. Es sagt uns, dass wir mit diesem Jesus noch nicht fertig sind.

Bei LaChapelle wie bei Madonna gilt: Knalliger Pop heisst nicht religiöse Leere.

Die Musikerin Madonna sagte, «Like a Prayer» sei eine Liebeserklärung an ihre Mutter, die ihr das Beten beigebracht habe. Trotzdem kalkulierte sie mit ihrem Musikvideo von 1989 den Skandal mit ein.

Ich sehe bei ihr tatsächlich eine starke katholische Prägung, angefangen bei der Wahl des Künstlernamens. Die Provokation ist auf jeden Fall gewollt. Im Video wird die Kirche aber zum Zufluchtsort, die Musik feiert im Pop den Gospel. Da ein dunkelhäutiger Mann zu Unrecht für weisse Gewalt an einer Frau verurteilt wird, kommt auch das Rassismusproblem ins Spiel. Der Schwarze ist der Sündenbock.

Weil Madonna das Messer aus der Hand fällt, trägt sie die Stigmata Christi. Reine Provokation?

Das ist für viele Christinnen und Christen sicher anstössig. Auf der Ebene der Erzählung ist die Szene aber gut integriert. Die von Madonna verkörperte Figur hat die Tatwaffe gesichert. Der angebetete Jesus ist schwarz, die Kirche schützt vor Verfolgung. Das Video bleibt damit nah an der politischen Dimension des Evangeliums. Genauso wie bei LaCha­pelle gilt auch hier: Knalliger Pop heisst nicht religiöse Leere.

Madonna - Like A Prayer