Schwerpunkt 26. März 2024, von Christa Amstutz Gafner

«Er hat einen sehr hohen Preis bezahlt»

Jesus von Nazaret

Der jemenitisch-schweizerischen Polito­login begegnete Jesus schon in ihrer Kind­heit. Sie schätzt seine Botschaft der Liebe.

«Jesus ist mir seit meiner Kindheit vertraut. Er ist einer der wichtigsten Propheten im Islam. Ich erinnere mich, wie meine Mutter Koran-Rezitationen auf Kassetten gehört hat. Die Geschichte von Maria und Jesus aus Sure 19 mochte sie besonders gern. Auch meine ägyptische Grossmutter liebte Mariam und hielt sie für eine Heilige, an die sie ihre Wünsche und Gebete richtete.

Auch im Koran ist die Mutter von Jesus Jungfrau, und die Empfängnis wird ihr von einem Engel verkündet. Aber es gibt keinen Josef, der sie unterstützt, und auch keine Krippe im Stall. Mariam gebärt allein unter einer Dattelpalme.

Dieselbe Geburt anders

Die süssen Früchte stärken Mariam in ihrer Verzweiflung und in ihren Wehen. Im Gegensatz zur Bibel werden Marias Geburtswehen im Koran explizit erwähnt. 

Elham Manea, 58

Elham Manea, 58

Elham Manea ist Titularprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, Schriftstellerin und Menschenrechtlerin. Sie ist in einer jemenitisch-ägyptischen Familie an vielen Orten der Welt aufgewachsen und lebt heute in der Schweiz.

In der Mariensure heisst es auch, dass Jesus schon als Baby sprechen konnte. Er sagt: ‹Siehe, ich bin der Knecht Gottes! Er gab mir das Buch und machte mich zum Propheten.› Isa wird im Koran denn auch ‹Wort Gottes› genannt. Vertraut sind mir auch die Geschichten über Heilungen und Wunder, die Isa vollbrachte. Und seine Geburt, wie sie in der christlichen Tradition an Weihnachten gefeiert wird, hat für mich eine besondere Bedeutung.

Weihnachten bringt mich zurück in meine Kindheit. Meine Eltern haben das Fest ganz selbstverständlich mitgefeiert, als wir als Diplomatenfamilie in Deutschland lebten. Diese Tradition führten wir fort. In der Familie meines Schweizer Mannes war sogar ich es, die darauf bestand, Weihnachten wieder einzuführen und zu feiern.

Auch heute begehen mein Mann und ich wichtige religiöse Feste gemeinsam. Zum Beispiel Eid al-Fitr, das Ende des Ramadans, das in diesem Jahr auf den 9. April fällt. Und an Weihnachten, manchmal auch an Ostern, besuchen wir gemeinsam einen Gottesdienst in der Kirche.

Unbestritten ist jedoch in der islamischen Tradition, dass Isa nicht am Kreuz gestorben ist.

Im Koran gibt es einen einzigen Vers zur Kreuzigung von Jesus (17, Sure 4). Der ist aber so vielseitig auslegbar, dass sich die Gelehrten nicht einig sind: Wurde jemand anders gekreuzigt und mit ihm verwechselt, wurde niemand gekreuzigt? Unbestritten ist jedoch in der islamischen Tradition, dass Isa nicht am Kreuz gestorben ist.

Ohne Macht geblieben

Was mich an Jesus immer besonders beeindruckt hat, ist seine Botschaft der Gewaltlosigkeit und Liebe. Diese ist gerade heute wieder unglaublich wichtig.

Ich habe mich schon oft gefragt, ob Jesus und seine Botschaft sich verändert hätten, wenn er nicht gekreuzigt, sondern mächtig geworden wäre. Das war bei Mohammed, dem Propheten des Islam, der Fall.

Am Anfang war seine Botschaft inklusiv, liebevoll, offen, tolerant und friedlich. Als er jedoch an Einfluss und Macht gewann, wurde sie ausgrenzend und konfrontativ.

Die Kreuzigungsgeschichte berührt mich. Jesus erscheint darin sehr menschlich. Wie viele andere Menschen auch hat er einen hohen Preis bezahlt für seinen Versuch, etwas zum Besseren zu verändern in der Gesellschaft.»