Schwerpunkt 26. März 2024, von Hans Herrmann

«Ein Vorbild für Moral und Tugend»

Jesus von Nazaret

Für Michelle Wüthrich ist Jesus eine Herausforderung. Die Philosophin findet, er sei als Person schwer zu definieren und zu beurteilen.

«Als Philosophin sehe ich in der Gestalt des Jesus von Nazaret zwei Herausforderungen, die eine Auseinandersetzung mit ihm anspruchsvoll gestalten. Erstens basiert mein Wissen über Jesus auf einem dichten Geflecht aus Erzählungen, Überlieferungen, den Überzeugungen seiner Anhängerschaft und theologischen Interpretationen. Hingegen gibt es kaum historisch verbürgte Fakten.

Zweitens: Die Trinitätslehre wirft einige Fragen auf. Wie sind Jesus, der Heilige Geist und Gott numerisch eins und doch verschieden? Oder ist Jesus ein Mensch mit einer spirituellen und religiösen Wirkungsgeschichte, die bis heute andauert?

Als Gott entzieht er sich jeder Kritik, als Mensch nicht. Jesus hat also eine Eigendynamik entwickelt, die es schwer macht, ihn als Person zu definieren und zu beurteilen.

Michelle Wüthrich, 40

Michelle Wüthrich, 40

Sie unterrichtet am Kollegium St. Michael in Freiburg Philosophie und Geschichte. Auch präsidiert Michelle Wüthrich den Verband der Schweizerischen Philosophielehrerinnen und -lehrer an Mittelschulen, der das Fach öffentlich besser positionieren will.

Meiner Meinung nach braucht es eine kritische Auseinandersetzung mit den Aussagen Jesu. So können sie ihre positive Wirkung entfalten, ohne dass es in Dogmatismus und Heuchelei umschlägt. Im Johannesevangelium sagt Jesus: ‹Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich› (Joh 14,6).

Ich halte dieser Aussage zugute, dass sie der Wahrheit einen intrinsischen Wert beimisst, also festhält, dass Wahrheit für sich allein wertvoll sei und der Umgang mit ihr sorgsam zu erfolgen habe. Sich der Wahrheitssuche hinzugeben und in kritischer Reflexion zu bleiben, kann sehr bereichernd sein.

Etwas Absolutes

In Jesu Formulierung ‹Ich bin› steckt aber auch etwas Absolutes, das verleiten kann, Wahrheit als unverrückbar zu definieren. Falls Jesus zu einer solchen Auffassung von Wahrheit einladen würde, wäre ich damit nicht einverstanden.

Eine weitere Kernaussage von Jesus ist: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst› (Mt 22,39). Darin drückt sich eine zuwen­dungs­volle menschliche Haltung aus. Aber auch hier frage ich kritisch nach: Ist Liebe nicht eine sehr vielschichtige Emotion? Sie einzufordern, kann rasch überfordern. Die Philosophie hilft mir, Jesus auf das Menschenmögliche herunterzubrechen. Immanuel Kant spricht von der ‹Achtung der Würde›; dies ist näher an der lebbaren Realität.

Sind seine Bilder und Analogien in den Gleichnissen immer so logisch, wie es zum Verständnis wünschenswert wäre?

Ich bin mit einer sehr christlichen Grossmutter und einem gläubigen Familienzweig aufgewachsen, habe auch den Religionsunterricht besucht. Mein Zugang zu religiösen Inhalten blieb aber immer etwas sperrig. Deshalb bin ich später aus der Kirche ausgetreten.

Ich sehe mich aber nicht in einem Konflikt mit Jesus. Ich halte ihn für eine interessante Persönlichkeit, die als moralisch-tugendhaftes Vorbild dienen kann. Ausserdem sehe ich in ihm einen guten Erzähler. Aber bereits regt sich in mir wieder die Zweiflerin, die fragt: Sind seine Bilder und Analogien in den Gleichnissen immer so logisch, wie es zum Verständnis wünschenswert wäre?

Ich finde, dass es philosophische Arbeit braucht, um zu dem vorzudringen, was Jesus wirklich gemeint haben könnte – und was uns heute noch bereichern kann.»