Christen trotzen dem Hass und der Hetze

Christlicher Nationalismus

In den USA arbeiten konservative Christen auf eine Nation hin, in der weisse Christen das Sagen haben. Doch selbst im konservativen Texas regt sich Widerstand – auch aus Kirchen.

Es ist früher Morgen an diesem Samstag im Juli, doch im texanischen Fort Worth herrschen schon 30 Grad. Katherine Godby steht unter Schatten spendenden Bäumen vor dem Eingang des Botanischen Gartens, den Gehstock in der einen Hand, ein gemaltes Schild in der anderen. «No Hate Here» steht darauf. 

«Ich habe diese Gruppen satt, die mit ihrem Hass alles dominieren», sagt Katherine Godby. «Wir wollen zeigen, dass eine Mehrheit der Menschen anders denkt.»

Umstrittener Redner 

Die pensionierte Pfarrerin ist Kirchenmitglied der Broadway Baptist Church und Gründerin eines Bürgerrechtsnetzwerks. Die Demonstration hat sie in wenigen Tagen mit auf die Beine gestellt. Sie ist mit der Resonanz zufrieden. 

Um die 100 Menschen stehen um sie herum. Mit Transparenten, Regenbogenflaggen und Megafonen protestieren sie gegen eine Veranstaltung, die zu einem lokalen Politikum wurde. SUVs und Pick-up-Trucks rollen auf den Botanischen Garten zu, die Gäste und die Demonstranten beäugen sich argwöhnisch durch die Autofenster. 

Das True Texas Project, eine ultrakonservative Gruppierung, empfängt seine Anhänger zum 15-jährigen Jubiläum. Worüber hinter dem von Polizisten gesicherten Tor gesprochen wird, ist auf der Einladung im Internet nachzulesen. Es geht um «Multikulturalismus und den Krieg gegen das weisse Amerika» – und um die Verschwörungstheorie, dass die weisse Bevölkerung zugunsten anderer Rassen ausgetauscht werden soll. Referenten reden über «christliche Wurzeln der USA». Und darüber, dass in der Bibel «die Liebe für das eigene Volk» festgeschrieben sei. 

Auf der Rednerliste steht eine der umstrittensten Figuren im Land: Kyle Rittenhouse, ein weisser Amerikaner, der 2020 am Rand einer Demonstration gegen Rassismus zwei Menschen umbrachte. Rittenhouse musste sich einer Mordanklage stellen, wurde aber freigesprochen. Er gilt in rechtsextremen und ultrakonservativen Kreisen als Held. 

«Was würde Jesus tun?»

Das True Texas Project ist eine von vielen Organisationen in den USA, die sich dem christlichen Nationalismus verschrieben haben. Der Ideologie, dass die amerikanische Nation untrennbar mit dem Christentum verbunden ist. Ihre Anhänger arbeiten darauf hin, dass sich ihre fundamentalistische Interpretation christlicher Werte in der Gesetzgebung niederschlägt. 

Für christliche Werte plädieren auch viele der Demonstranten am Botanischen Garten. «Was würde Jesus tun?», so die Frage auf einem Schild. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», fordert ein anderes. 

Peter Nelson trägt einen grossen Strohhut und hält ein Schild hoch, auf dem «Christians against Christian Nationalism» steht. Er ist für die Broadway Baptist Church, der auch Katherine Godby angehört, tätig. Heute jedoch ist er in seiner Freizeit hier. Weil das True Texas Project eine Gefahr für die Demokratie, die Religionsfreiheit und die multikulturelle Gesellschaft sei, sagt er. 

Ich liebe die Bibel und sehe ihren Wert in vielen Lebensbereichen
Amanda Tyler, Juristin und Leiterein des Baptist Joint Committee for Religious Liberty (BJC)

Sein Schild ist mehr als ein Statement. «Christians against Christian Nationalism» ist nämlich auch der Name eines landesweiten Projekts, das christlichem Nationalismus die Stirn bieten will.

Lanciert hat es das Baptist Joint Committee for Religious Liberty (BJC), eine renommierte Organisation, die sich seit 1936 für Religionsfreiheit einsetzt. Der Anlass waren mehrere rassistisch motivierte Anschläge auf Kirchen schwarzer Gemeinschaften oder Synagogen, etwa 2018 in Pittsburgh.

Leiterin des BJC ist Amanda Tyler. Sie empfängt in einem Co-Working-Space im Design District von Dallas. Das alte Industriegebäude steht zwischen Kunsthändlern, Läden mit Designermöbeln und Kleiderboutiquen. Die Wände der Büros sind unverputzt, es gibt Sitzecken mit bequemen Sesseln, in der Küche stapeln sich Bagel-Kartons.

Religion und Staat 

Vor mehr als einem Jahr ist die Juristin mit der Familie aus der Hauptstadt Washington nach Dallas zurückgekehrt. Hier, im Staat Texas, ist sie aufgewachsen, als Kind besuchte sie in Baptisten-Gemeinden die Sonntagsschule, nach wie vor ist sie in einer Gemeinde aktiv. Ihr Mann ist jüdisch, ihr Sohn wird mit beiden Religionen gross. 

«Ich liebe die Bibel und sehe ihren Wert in vielen Lebensbereichen», stellt die 46-Jährige beim Gespräch in einem Konferenzraum klar. Aber die Regierung dürfe den Bürgern Religion nicht verordnen. Es geht der Juristin um die Trennung von Staat und Religion. «Und der Grundsatz der Religionsfreiheit, den uns die Verfassung garantiert, ist derzeit in Gefahr.» 

Dafür, wie real die Bedrohung ist, die von christlichem Nationalismus ausgeht, steht ein Datum, das sich ins nationale Gedächtnis eingebrannt hat. Es ist der 6. Januar 2021. 

An jenem Tag stürmte ein wütender Mob das Kapitol in Washington. Einige Menschen trugen christliche Symbole wie das Kreuz mit sich, beteten demonstrativ während des Tumults. An diesem Tag zeigte sich in aller Deutlichkeit eine Allianz, die über Jahrzehnte gewachsen war: die enge Verbindung von ultrakonservativen, rechtsextremen Kräften und religiöser Ideologie. 

Der Ernst der Lage hat Gläubige vieler christlicher Gemeinschaften wachgerüttelt. «Christians against Christian Nationalism» ist breit abgestützt. Gut zwei Dutzend Personen mit Leitungsfunktionen in Kirchen und religiösen Organisationen unterstützen das Projekt, darunter Lutheraner, Presbyterianer und Katholiken. Und über 40' 000 Christinnen und Christen unterzeichneten eine Erklärung des Projekts, in der sie sich unter anderem gegen Gewalt und für ein friedliches Zusammenleben verschiedener Religionen aussprechen. 

Dreimal im Kongress 

Tylers Job besteht zu einem guten Teil aus Aufklärungsarbeit. Sie ist eine gefragte Referentin, dreimal sprach sie in Washington an einer Ausschusssitzung des Kongresses. 

Jüngste Erhebungen des Public Religion Research Institute (PRRI) zeigen, wie verbreitet die Ideologie ist: Drei von zehn Amerikanern sind Anhänger oder Sympathisanten des christlichen Nationalismus, vor allem in republikanisch geprägten Bundesstaaten ist er verbreitet. Besonders empfänglich sind weisse und lateinamerikanische Evangelikale, bei denen 66 respektive 55 Prozent dieser Ideologie anhängen.

Megachurches mit vielen Anhängern säen das Gedankengut, in dem Angst eine prägende Rolle spielt, wie Tyler im Gespräch ausführt: Angst vor weniger Einfluss in einer multikulturellen Gesellschaft. Angst, als Christen und Weisse zur Minderheit zu werden. 

Die Regierung darf den Bürgern Religion nicht verordnen.
Amanda Tyler, Juristin und Leiterein des Baptist Joint Committee for Religious Liberty (BJC)

Die Auswirkungen der Ideologie sind im Leben vieler Amerikaner immer deutlicher zu spüren, und es gehört zu Tylers Job, darauf aufmerksam zu machen. Im Co-Working-Space öffnet sie die Tür zu einem Tonstudio. Woche für Woche bespricht sie im Podcast «Respecting Religion» mit der Juristin Holly Hollman den Politikbetrieb in Washington. Scharfsinnig und unterhaltsam analysieren sie wichtige Gerichtsurteile. 

Etwa den Entscheid des Supreme Court vor zwei Jahren, das landesweite Recht auf Abtreibung zu kippen. Evangelikale hatten sich über Jahrzehnte dafür starkgemacht. Dazu Vorstösse wie den jüngsten aus Louisiana, wo öffentliche Schulen in Klassenzimmern inskünftig die Zehn Gebote aufhängen müssen. 

Christliche Nationalisten hätten das Bildungssystem besonders in den Blick genommen, sagt Tyler. Sie fordern christliche Seelsorger in öffentlichen Schulen – was problematisch für Schüler anderer Religionen oder Kinder aus der LGBTQ-Community sei. 

Die Themen gehen nicht aus

In mehreren Bundesstaaten gibt es Bemühungen, Gelder vom öffentlichen Schulsystem abzuziehen und Eltern zukommen zu lassen, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken; meist handelt es sich um christliche Schulen. «Das steht im Gegensatz zur lange geltenden Interpretation der Verfassung, dass Religionen nicht mit öffentlichem Geld unterstützt werden», hält Tyler fest.

Vor allem Kinder aus weissen, evangelikalen Familien dürften davon profitieren. Kritiker sehen in solchen Initiativen den Beweis, dass christliche Nationalisten eine weisse Vorherrschaft etablieren wollen und die Bürgerrechte immer mehr eingeschränkt werden. 

«Was mich in den letzten Jahren am meisten erschreckt hat, war die Erkenntnis, dass unsere demokratischen Werte nur so sicher sind, wie wir bereit sind, für sie einzustehen», sagt Tyler. Die Themen für den Podcast gehen ihr nicht aus, im Gegenteil. Die Anhänger des christlichen Nationalismus werden zwar nicht zahlreicher, aber lauter und radikaler. In der Politik bekleiden sie immer öfter wichtige Posten. 

Tyler beobachtet christlichen Nationalismus sowohl bei Demokraten als auch bei Republikanern, doch die deutlichsten Beispiele findet sie in der Republikanischen Partei. Ex-Präsident und Präsidentschaftskandidat Donald Trump etwa verkauft Bibeln und inszeniert sich gern messianisch als Landesretter. 

Ob Trump ein überzeugter christlicher Nationalist sei? «Die Wahrheit ist, ich weiss es nicht», sagt Tyler und zieht ratlos die Schultern hoch. Klar sei, dass Trump sich der Sprache und Symbolik der christlichen Nationalisten bediene. Und wenn sich bekannte Politiker oder Richter vermehrt mit dieser Ideologie gemein machten, werde sie immer salonfähiger. 

Natürlich steht auch für Amanda Tyler 2024 im Zeichen der Präsidentschaftswahl. «Wie man in einem Wahljahr Baptist ist» heisst ein Vortrag, den sie vor Kirchenvertretern hält. Sie will Menschen zum Wählen motivieren. «Für wen die Leute ihr Kreuz setzen, ist mir egal. Wichtig ist, dass so viele Menschen wie möglich wählen.» Freie und faire Wahlen seien die Grundlage von Demokratie und der beste Weg, um Faschismus zu bekämpfen. 

Eine lila Gemeinde

Die Notwendigkeit, sich auf lokaler Ebene für Demokratie und Bürgerrechte einzusetzen, hat auch eine Kirchgemeinde in jener Stadt erkannt, die sich als Tor zum Wilden Westen versteht. Fort Worth ist der Verwaltungssitz des Bezirks Tarrant, rund eine Dreiviertelstunde Autofahrt von Dallas entfernt. In einem historischen Quartier reihen sich Shops mit Cowboystiefeln und Western-Bars aneinander. Täglich werden für die Touristen hier Kühe durch die Strasse getrieben. 

Auch Ryon Price trägt Cowboystiefel, dezente in Schwarz, während er die Kirche der Broadway Baptist Church zeigt. Das in den 50ern erbaute Gotteshaus im neogotischen Stil erinnert an europäische Sakralbauten. Durch bunte Glasfenster und Rosetten strahlt an diesem Vormittag intensiv die Sonne. 

«Das da hinten ist mir das liebste», sagt der 48-jährige Pastor und zeigt auf ein Buntglasfenster über der Empore. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich einer der um Jesus gescharten Jünger als Frau. «Das passt gut zu uns», sagt Price und lacht. 

Die 1882 gegründete Kirche gehörte einstmals zur Southern Baptist Convention, der grössten protestantischen Konfession in den USA. Vor 15 Jahren wurde sie wegen ihrer liberalen Einstellung gegenüber der LGBTQ-Gemeinschaft von dem streng konservativen Verband ausgeschlossen. Pastor Price beschreibt seine Gemeinde als «lila», eine Mischung aus republikanischer und demokratischer Wählerschaft. In der Region ist die Broadway Baptist Church bekannt für ihr Engagement für Bürgerrechte. Dass sich mehrere Mitglieder an den Protesten vor dem Botanischen Garten beteiligen, ist daher kein Zufall. 

Vor rund drei Jahren gründete die Gemeinde ein Gerechtigkeitskomitee. Es setzt sich in Tarrant County unter anderem für bessere Bedingungen in den Gefängnissen ein. Eine Haftanstalt geriet wegen einer hohen Zahl von Todesfällen mehrfach in die Schlagzeilen. 

Umkämpfte Themenfelder 

Im Youtube-Stream lässt sich verfolgen, wie unermüdlich sich Price zusammen mit Mitgliedern des Komitees an den öffentlichen Sitzungen der Bezirksregierung engagiert. Regelmässig sprechen sie vor, äussern Kritik oder Zustimmung zur Lokalpolitik. An ihren Treffen diskutieren die sechs Mitglieder und der Pfarrer Felder, in denen sie Handlungsbedarf sehen. Frauenrechte, Rechte von Homosexuellen und Transpersonen, Schulpolitik: alles Themen im Visier konservativer Kräfte. 

Beim Gespräch in Prices Büro im Gemeindehaus ist auch die Komitee-Vorsitzende Lydia Bean dabei. Schnell wird deutlich, wie komplex die politischen Verhältnisse in Tarrant County sind. Bei der letzten Präsidentschaftswahl holte im Bezirk knapp der Demokrat Joe Biden die Mehrheit, doch es herrscht ein Stadt-Land-Graben. 

«Auf lokaler Ebene sind viele Republikaner in hohen Ämtern», sagt Price. In der Bezirksregierung liegt das Verhältnis von Republikanern zu Demokraten bei drei zu zwei. Das wäre für den Pastor unproblematisch, wären nicht oft ultrakonservative Politiker am Ruder, teils mit Verbindungen zu streng religiösen Kirchen. Darunter der Vorsitzende der Bezirksregierung, der Bezirksstaatsanwalt und der Sheriff. 

Die Behörden finanzieren neuerdings nicht mehr die Kosten für den öffentlichen Transport von Wählern zu den Wahllokalen.
Ryon Price, Pastor Broadway Baptist Church

Dass auf lokaler Ebene die erzkonservativen Kräfte so stark sind, führen Price und Bean darauf zurück, dass die Grenzen der Wahlbezirke alle zehn Jahre neu gezogen werden. Die dominierende Partei kann Wähler so gruppieren, dass sie davon profitiert. «Gerrymandering» heisst der Begriff dafür. Studien zeigen, dass von der Strategie vor allem Kandidaten am äussersten Rand von Parteien profitieren. 

Die Wahlen sind nun auch das dringlichste Thema im Gerechtigkeitskomitee. Price und Bean liefern zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie die Behörden vermehrt Einfluss nehmen können. «Sie finanzieren neuerdings nicht mehr die Kosten für den öffentlichen Transport von Wählern zu den Wahllokalen», sagt Price. Auch seien neue Regelungen im Gespräch, wonach Bürger demnächst nur noch in bestimmten Wahllokalen ihre Stimme abgeben dürften. 

Verunsicherte Wählende

Wie heikel das Thema Wahlen ist, zeigt der Fall einer schwarzen Frau in Tarrant County. Sie hatte 2016 unberechtigt an den Wahlen teilgenommen und wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Trotz Freispruchs in höherer Instanz will der Bezirksstaatsanwalt den Fall nicht zu den Akten legen. Kritiker sehen darin einen Versuch, die schwarze Wählerschaft zu verunsichern. 

Obwohl es den christlichen Nationalismus schon lange gebe, führt Soziologin Bean aus, sei es in dieser Form neu, wie seine Anhänger die Demokratie sowie freie und faire Wahlen ablehnten. «Jetzt ist es unsere Aufgabe sicherzustellen, dass die Präsidentschaftswahlen im November nicht unsere letzten freien und fairen Wahlen werden.» 

Daher trifft sich das Gerechtigkeitskomitee mit dem für die Wahl zuständigen Behördenvertreter, um Bedenken zu äussern und auf die Rechte der Bürger zu pochen. 

Sich raushalten geht nicht. Schweigen heisst, Komplize zu sein.
Ryon Price, Pastor Broadway Baptist Church

Oft sind die Prozesse langwierig, aber die Kirche kann Erfolge verbuchen. Einem privaten Dienstleister, der ein Gefängnis mehr schlecht als recht betrieb, wurde jüngst der Vertrag gekündigt. «Immer wieder sprechen Mitglieder der Bezirksregierung auch mal unsere Argumente an», sagt Bean. 

Doch der Widerstand hat seinen Preis. Kürzlich wurde Price von den Sitzungen der Bezirksregierung für ein Jahr ausgeschlossen. «Weil ich acht Sekunden über der dreiminütigen Redezeit war», sagt er und schüttelt den Kopf. Er legt dagegen Widerspruch ein. Im Internet werden der Pfarrer und seine Gemeindemitglieder angefeindet, die Republikaner diffamieren sie regelmässig in ihrem Newsletter als «linke Radikale». Dabei ist sich Price sicher: «Wir sind näher an der Mehrheitsmeinung in Tarrant County, als es die Republikaner wahrhaben wollen.» 

Dass es sich bei christlichen Nationalisten überwiegend um Weisse handelt, die Macht und Einfluss suchen, beschäftigt den Baptisten-Pastor auch privat. Denn er ist mit einer schwarzen Frau verheiratet, das Paar hat drei Kinder. Rassismus ist ihm nicht fremd: «2004 waren wir gerade von unserer Hochzeitsreise zurückgekommen, da verbrannte der Ku-Klux-Klan Kreuze in der Stadt, in der wir damals lebten.» 

Politik in der Predigt

Sein Engagement für Bürgerrechte ist auch ein Eintreten für seine Familie. «Ich sorge mich um die Zukunft unseres Landes. Und um die meiner Kinder.» Auch darum predigt er sonntags nicht nur die theologische Botschaft, oft spricht er politische Themen wie Einwanderung oder die Rechte von Minderheiten an. Zwar hält er es für nachvollziehbar, dass manche Menschen in Zeiten, in denen das Land stark gespalten sei, in der Kirche primär eine Ruhepause suchen. «Aber wir können uns nicht raushalten.» Schweigen heisse, Komplize zu sein. «Und das wäre nicht glaubwürdig.»

Glaubwürdig zu sein in der Nachfolge Jesu: Eine evangelikale Kirche im nördlich von Dallas gelegenen Keller wirbt ganz offensiv damit. «Live and Love like Jesus» ist die Ansage der Northwood Church an ihre Mitglieder, der Spruch omnipräsent auf der Website und auf Bildschirmen im Gemeindehaus. 

Ein Parkplatz für Hunderte Autos umgibt das moderne Flachdachgebäude aus gelbem und rötlichem Stein. Wie in grossen Megachurches werden Besucher an einer Rezeption begrüsst, im Café gibt es kostenlose Getränke. Den Gottesdienst im halbrunden Auditorium begleitet eine zwölfköpfige Band, sie spielt auf der perfekt ausgeleuchteten Bühne christliche Popsongs, einige der rund 250 Besucher strecken die Arme in die Höhe. 

Die USA befinden sich an diesem Tag im Ausnahmezustand. Nur ein paar Stunden zuvor verübte ein Attentäter in Butler im Bundesstaat Pennsylvania einen Anschlag auf Donald Trump. Pastor Scott Venable kommt gleich zu Beginn seiner Predigt darauf zu sprechen: «Wir leben und lieben wie Jesus. Wir sind Friedensstifter. Was bedeutet das? Lass nicht Ideologie dein Leben regieren, sondern Jesus.» 

Gründer der Kirche ist der Texaner Bob Roberts. In den US-Medien wird er als Vertreter einer neuen «moralischen Minderheit» von evangelikalen Pastoren bezeichnet, die sich explizit gegen christlichen Nationalismus aussprechen. 

Es sei falsch, Menschen das Konzept einer christlichen Nation aufzudrängen, so der Pastor bei einem Zoom-Gespräch aus seinem Wohnzimmer. Links von ihm stehen meterlange Bücherregale, hinter ihm ziert das beeindruckende Horn eines Longhorn-Rinds die Wand. Die gemeinsame Identität von Christen sieht Roberts «im Königreich Gottes, durch Menschen, die Bürger verschiedenster Nationen sind». 

Missionarisch unterwegs 

Roberts hat sich einen Namen gemacht. Wegen seiner Verdienste für den interreligiösen Dialog lud ihn Präsident Joe Biden ins Weisse Haus ein. Er pflegt beste Beziehungen zu jüdischen und muslimischen Vertretern, setzt mit ihnen Hilfsprojekte im In- und Ausland um. 

«Unser Glaube gebietet es, ein Segen für die ganze Menschheit zu sein, egal ob sie Jesus folgt oder nicht», erklärt er seine Haltung. 

Trotzdem ist Roberts ein Missionar, die Verbreitung des Christentums verfolgt er konsequent: In den letzten Jahrzehnten hat er über 300 Kirchen im Land bei der Gründung unterstützt. Er spricht offen darüber, dass er konservativ, ein Anhänger des traditionellen Familienmodells ist und Abtreibungen ablehnt. Dennoch arbeitet er mit allen politischen Parteien zusammen. 

Ein Personenkult um einen Politiker, obwohl es in den Kirchen doch um Jesus Christus gehen sollte und um die prophetischen Botschaften der Bibel.
Bob Roberts, evangelikaler Kirchengründer

Die Northwood Church war 1985 die erste Kirche, die er gründete. Wie einst die Broadway Baptist Church gehört sie zur konservativen Southern Baptist Convention. Doch 2010 öffnete sich die Gemeinde für Menschen aller Länder und Ethnien, sie stellte schwarze Pastoren und Mitarbeitende ein. «Wir habe damals viele Mitglieder verloren, aber wir wollten eine multiethnische Kirche werden.» Heute gibt es in der Kirche jeden Sonntag auch Gottesdienst auf Spanisch: Die Sprache ist wegen der Grenze zu Mexiko und den zahlreichen Einwanderern hier weitverbreitet.

Das Thema illegale Migration und die Stimmung, die christliche Nationalisten gegen Migranten schüren, treiben Roberts und seine Gemeinde um. «Dass wir eine Lösung für unsere Probleme an der Grenze finden müssen, ist offensichtlich», räumt er ein. «Wenn jedoch Geflüchtete hier sind, egal ob aus Mexiko, Afghanistan oder der Ukraine, dann kann ich doch nicht sagen: ‹Klar, Jesus sagt, man solle seinen Nächsten lieben, aber du bist ein Einwanderer, und deswegen kann ich das nicht tun!›.» 

Pfarrpersonen unter Druck 

Der Pastor beklagt, viele evangelikale Kirchen hätten sich zu sehr von der Politik vereinnahmen lassen. Manche Pfarrer unterstützten gar explizit Donald Trump, weil das die Massen in die Kirchen treibe. «Ein Personenkult um einen Politiker, obwohl es in den Kirchen doch um Jesus Christus gehen sollte und um die prophetischen Botschaften der Bibel», sagt Roberts. 

Oft bringt christlicher Nationalismus Pastoren, die anders denken, in ihren Gemeinden in grosse Not. Seine eigene Meinung zu äussern, birgt Risiken, zumal die Pfarrer direkt von der Gemeinde angestellt sind und um ihren Job bangen müssen. Roberts: «Speziell junge Pfarrer sind verzweifelt, viele sind kurz davor, selbst zu kündigen, und fragen mich um Rat.» 

Deshalb hat er einen Leitfaden erarbeitet. Die Publikation, die er innerhalb seines interreligiösen Netzwerkes angestossen hat, hält er in die Kamera; es ist ein «Peacemakers Toolkit», eine «Anleitung zum Friedenstiften» für Geistliche mit Leitungsfunktion. Auf 70 Seiten geht es um konstruktive Gesprächsführung, den Umgang mit Fake News oder um Methoden, einer Radikalisierung entgegenzuwirken. Ein Plädoyer für Dialog und dafür, sich im Kampf gegen Hass und Desinformation zu vernetzen.

Bündnisse schliessen 

Wie lässt sich christlicher Nationalismus beenden? Auf diese Frage hat der evangelikale Kirchengründer Bob Roberts die gleiche Antwort gefunden wie Amanda Tyler. Die Baptistin hat jüngst ein Buch mit genau diesem Titel veröffentlicht, nur das Fragezeichen fehlt. «Es ist wichtig, dass wir uns vor Ort gemeinsam engagieren. Auch mit Menschen unterschiedlichen Glaubens und Konfessionslosen», sagt sie. 

«Christians against Christian Nationalism» hat im Frühling ein lokales Pilotprojekt in Nord-Texas gestartet. Es bezweckt, unterschiedliche Kirchgemeinden und Organisationen zusammenzubringen und ihnen zu zeigen, was sie der Ideologie entgegensetzen können.

Mit dabei: die Broadway Baptist Church als Vorbild für eine Kirche, die sich einmischt. Das Wichtigste sei, die Mehrheit der Bevölkerung einzubinden, sagt Amanda Tyler. Sie zum Mitmachen zu bewegen, «im Ringen um eine Demokratie, in der die Menschen vieler Völker Platz haben und in der wir uns alle entfalten können».

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