«Es ist richtig, dass wir die Regeln geklärt haben»

Haus der Religionen

Die Negativschlagzeilen über die Institution sind für den neuen Präsidenten auch eine Chance. «Wir müssen uns hinterfragen und weiterentwickeln», sagt Johannes Matyassy.

Herr Matyassy, eigentlich sind Sie ja pensioniert. Weshalb geniessen Sie nicht einfach den Ruhestand, sondern wollten Präsident im Haus der Religionen werden?

Weil ich eine Faszination für diese europaweit einzigartige Institution habe: Alle Religionsgemeinschaften wirken hier unter dem gleichen Dach, das Programm im Haus der Religionen lädt zum Austausch ein. Mit dem neuen Amt schliesst sich auch ein Kreis in meiner beruflichen Karriere. Ich hatte im Aussendepartement immer wieder mit verschiedenen Kulturen, Wertehaltungen und Religionen zu tun. Ich hatte das Privileg, in diese Kulturen eintauchen zu dürfen.

Für das Präsidium interessierten sich zahlreiche Personen. Wie erlebten Sie das Auswahlprozedere?

Das Hearing beim Vereinsvorstand fand ich anspruchsvoll, mit tiefgreifenden Fragen. Eine war beispielsweise, woraus ich meine tägliche geistige Nahrung schöpfe. Das wurde ich noch in keinem Bewerbungsgespräch gefragt.

Was haben Sie geantwortet?

Aus dem Glauben und aus den Werten, die ich von daheim mitbekommen habe.

Johannes Matyassy, 65

Der neue Präsident im Haus der Religionen ist Johannes Matyassy, ein Mann mit viel Führungserfahrung. Mat­yassy war Generalsekretär der FDP Schweiz, Botschafter in Argentinien, im Aussendepartement Chef der Abteilung Asien und Pazifik sowie bis zu seiner Pensionierung stellvertre­tender Staatssekretär. Matyassy ist katholisch und war in der Pfarrei Bruder Klaus in Bern aktiv.

Welchen Bezug hatten Sie früher zum Haus der Religionen?

Irgendwie hat mich das Haus der Religionen immer angezogen (lacht). Ich hatte unter anderem beruflich damit zu tun, als der Besuch des Dalai Lama in Bern bevor stand. Ich war damals im Aussendepartement Chef Asien und hatte vor solchen Besuchen jeweils Kontakt mit den Regierungen. Der Empfang in Bern fand ja dann hier am Europaplatz statt. Ausserdem habe ich regelmässig die farbenfrohen Zeremonien auf dem Vorplatz des Haus der Religionen mitverfolgt, weil die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) im Nachbargebäude untergebracht ist.

Wo sehen Sie den Wert des Haus der Religionen?

In seiner Ausstrahlung über die Schweiz hinaus. Schon das Gebäude ist ein Symbol in einer polarisierten Welt voller Konflikte. Das Haus sagt: Es geht auch zusammen, unter dem gleichen Dach. Das Haus der Religionen trägt zum Dialog bei. Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, miteinander im Dialog zu bleiben. Hier im Haus der Religionen findet dieser Austausch einerseits untereinander statt, aber auch mit Menschen ausserhalb der Institution, die sich für Religion, Dialog und andere Kulturen interessieren.

Dieser Austausch zwischen verschiedenen Kulturen muss aber immer gegenseitig sein, wir gehen alle aufeinander zu.
Johannes Matyassy

Bietet so ein Haus einen einfacheren Zugang zu Religion als es die Kirchen tun?

Ich kann es noch zu wenig aus der Praxis sagen, kann mir das aber sehr gut vorstellen. Es gibt hier ein Restaurant, es finden zahlreiche Veranstaltungen statt. Die Hemmschwelle hier rein zu kommen ist kleiner als bei einer Kirche. Darin sehe ich natürlich eine enorme Chance für das Haus. Dazu kommt, dass sich das Quartier hier stark entwickeln wird.

Sie sprechen die geplante Überbauung hier in Ausserholligen an.

Im Moment umfasst das Einzugsgebiet rund 5000 Menschen, ist das neue Stadtquartier fertig gebaut, werden es rund 25'000 sein. Das ist eine riesige Chance auch für das Haus der Religionen. Wir befinden uns im Zentrum dieses Stadtteils und können eine wichtige Rolle als Treffpunkt spielen. Dieser Austausch zwischen verschiedenen Kulturen muss aber immer gegenseitig sein, wir gehen alle aufeinander zu.

Solche Zwangsverheiratungen betreffen ausserdem nicht nur die muslimische Gemeinde.
Johannes Matyassy

Dieser Dialog war offensichtlich in den letzten Monaten etwas schwierig. Das Haus der Religionen geriet wegen Zwangsverheiratungen in der Moschee in die Negativschlagzeilen. Hat man bisher doch zu wenig miteinander geredet und geklärt, welche Regeln gelten?

Ich habe das Ganze noch von aussen mitbekommen, finde aber, man hat hier sehr professionell auf diese Vorwürfe reagiert. Es ist richtig, dass die Regeln geklärt und verschärft wurden. Bei diesen mutmasslichen Zwangsverheiratungen ging es ja vor allem auch darum, dass zuvor keine zivilen Trauungen stattgefunden hatten. Mit dem nun geltenden Verhaltenskodex ist noch einmal ganz klar festgehalten, dass das nicht toleriert wird. Alle im Haus eingebundenen Glaubensgemeinschaften müssen sich daran halten. Solche Zwangsverheiratungen betreffen ausserdem nicht nur die muslimische Gemeinde.

Sie sagen «mutmasslich», weil die Fälle juristisch keine Konsequenzen haben.

Ja, die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren geschlossen, weil niemand geklagt hat.

Und damit sind die Fälle auch für das Haus der Religionen abgeschlossen?

Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist wichtig, dass wir bei diesen und ähnlichen Themen aufmerksam bleiben. Dass es keine Anzeigen gab, heisst nicht, dass nichts Unrechtes vorgefallen ist. Es ist für Betroffene sehr schwierig, ihre eigene Familie anzuzeigen.

Es ist wichtig, dass wir uns gemeinsam mit den Glaubensgemeinschaften stetig hinterfragen und weiterentwickeln.
Johannes Matyassy

Ist das Haus der Religionen zu Unrecht an den Pranger gestellt worden?

Das Haus der Religionen ist sicher kein Hotspot für Zwangsheiraten, das bestätigt ja auch die zuständige Fachstelle. Unsere Verantwortlichen sind in engem Austausch mit ihr – und waren es auch schon vor Bekanntwerden dieser Vorwürfe. Für uns als Institution sehe ich aber auch eine Chance, dass dieses Thema aufs Tapet gekommen ist. Es ist wichtig, dass wir uns gemeinsam mit den Glaubensgemeinschaften stetig hinterfragen und weiterentwickeln.

Nächstes Jahr wird das Haus am Europaplatz 10 Jahre alt. Was planen Sie zum Jubiläum?
Es ist sicher eine super Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen, was wir im Haus der Religionen alles machen. Im Detail ist das Programm noch nicht bekannt. Geplant ist ein grosser Anlass im Dezember 2024, eine Publikation zum Jubiläum, und dass man das Haus der Religionen künftig von irgendwo auf der Welt virtuell besuchen kann.

Der Generationenwechsel ist angestossen.
Johannes Matyassy

Bevor Sie zum Präsidenten gewählt wurden, hiess es im Haus der Religionen, ein «Generationenwechsel» stehe an. Bei diesem Begriff denkt man nicht unbedingt an einen 65-jährigen Pensionär…

(lacht) Sagen Sie ruhig an einen «alten, weissen Mann»! Man muss den ganzen neuen Vorstand anschauen. Er wurde vergrössert, und von den sechs Personen sind vier um die 30 oder jünger. Die drei Neuen sind Frauen, zwei mit Migrationshintergrund. Ich glaube, es ist in der aktuellen Situation gar nicht schlecht, wenn ein «Senior» den Vorstand leitet. Der Generationenwechsel ist trotzdem angestossen.

Der muslimische Verein wird neu vom Sohn des zurückgetretenen Imams geleitet. Wo sehen Sie seine Rolle?

Er hat sicher – gerade wegen der Vorgeschichte – eine wichtige Rolle. Aber wie alle anderen neu Gewählten soll auch er die Chance haben, bei Null anzufangen. Ich finde auch gut, dass er – anders als der Vater – nicht auch gleichzeitig Imam ist. Auch im muslimischen Verein findet eine Klärung und Professionalisierung statt.

Wir wollen zeigen, dass etwas als fremd Wahrgenommenes nicht zwingend gefährlich sein muss.
Johannes Matyassy

Welche Ziele haben Sie fürs Haus der Religionen?

Wichtig ist mir, dass wir nach vorne schauen. Hier in Ausserholligen entsteht eine Stadt in der Stadt mit der ganzen Quartierentwicklung. Wie gehen wir damit um? Die Schweiz ist in den letzten Jahren multikultureller geworden. Es gibt auch politische Kräfte, die allfällige Ängste deswegen bewirtschaften. Institutionen wie das Haus der Religionen können hier Gegensteuer geben. Wir wollen zeigen, dass etwas als fremd wahrgenommenes nicht zwingend gefährlich sein muss.

Sie haben lange im Ausland gelebt und gearbeitet. Wie haben Sie den Stellenwert von Religion und Glaube im Vergleich zur Schweiz erlebt?

Ein spannendes Thema: Gerade in Südamerika hat die katholische Kirche für viele Menschen eine riesige Bedeutung. Wenn der Papst zu Besuch kommt, reisen Hunderttausende Fans an. Hier in der Schweiz ist das völlig anders. Ich bin selber katholisch. Die katholische Kirche wird hier kritisch hinterfragt. In vielen Bereichen wohl zu recht, zum Beispiel, weshalb die Frauen nicht die gleichen Rechte haben, sich in der Kirche zu engagieren. Ich vermute, mit diesem Festhalten an alten Zöpfen verdirbt sich die katholische Kirche hier in der Schweiz einiges. Weltweit betrachtet sieht es wohl etwas anders aus.

Ich finde, die christlichen Kirchen müssten selber mehr hervorheben, was sie Gutes tun und wo sie überall engagiert sind.
Johannes Matyassy

Die Austritte aus der katholischen und der reformierten Kirche erreichen in der Schweiz und Deutschland Rekordwerte. Weshalb wenden sich die Menschen vom Glauben ab?

Ich bin nicht sicher, ob sie sich vom Glauben abwenden. Ich denke, sie wenden sich «nur» von der Institution Kirche ab.

Das ist eine sehr positive Auslegung dieser Austritte…

Es ist meine persönliche Erfahrung. Ich höre immer wieder von Menschen, die mir sagen, dass sie kein Gebäude und keine Institution brauchen, um zu glauben und mit Gott in Kontakt zu sein. Ich glaube, die Rolle der Kirche wird hinterfragt, nicht die Religion. Menschen brauchen Spiritualität, sie wollen an etwas glauben und darin Halt finden.

Kann hier das Haus der Religionen einen Teil dazu beitragen, den Menschen auch die Institution Kirche wieder näher zu bringen?

Es ist nicht unsere Hauptaufgabe. Ich finde, die christlichen Kirchen müssten selber mehr hervorheben, was sie Gutes tun und wo sie überall engagiert sind. Ein bisschen mehr Werbung in eigener Sache würde nicht schaden. Vielleicht wäre auch ein wenig mehr spürbare Freude schön in der christlichen Kirche. Wenn man zum Beispiel einer hinduistischen Zeremonie hier im Haus der Religionen beiwohnt, spürt man Freude. Das hat etwas sehr Anziehendes.

Turbulente Zeiten und bald Jubiläum

Das Haus der Religionen in Bern ist 
europaweit die einzige Institution, in der verschiedene Glaubensgemeinschaften unter demselben Dach untergebracht sind, wo sie Zeremonien durchführen und sich direkt austauschen. Andere ähnliche Häuser haben eher musealen Charakter. Die letzten Monate waren schwierig für die Institution. Sie geriet in die 
Negativschlagzeilen, weil es in der Moschee zu Zwangsverheiratungen 
gekommen sein soll. Da es keine 
Anzeigen gab, hat die Justiz das Verfahren geschlossen.

Nächstes Jahr wird das Haus am Europaplatz zehn Jahre alt. Für die Leitung «eine super Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen, was wir im Haus der Religionen alles machen», sagt Johannes Matyassy, der als neuer Präsident auf Regula Mader folgt. Geplant sind 
ein grosser Anlass im Dezember 2024, eine Publikation zum Jubiläum. Zudem soll man das Haus der Religionen künftig von irgendwo auf der Welt 
virtuell besuchen können.