Die reformierte und katholische Kirche empfehlen ein Nein zur Änderung des Sozialhilfegesetzes, über die am 24. September im Kanton Zürich abgestimmt wird. Warum macht die Kirche Politik?
Michel Müller: Viele Kirchgemeinden und Pfarreien bieten Deutschkurse und andere Möglichkeiten für die Integration von Migrantinnen und Migranten an. Aus Erfahrung wissen wir, dass wir keine Zeit verlieren dürfen, um Flüchtlinge zu integrieren. Zugleich halten wir es für ethisch falsch, die Unterstützung für vorläufig Aufgenommene derart radikal zu kürzen. Die betroffenen Menschen sind schutzbedürftig und können oft nicht in ihre Länder zurückkehren, weil ihnen dort Verfolgung droht oder Krieg herrscht. Praxis und Ethik sprechen also gegen das neue Gesetz. Wann soll sich die Kirche politisch äussern, wenn nicht zu dieser kantonalen Vorlage? Für den Kirchenrat war deshalb klar, dass er sich in dieser Frage positionieren muss.
Und den Standardvorwurf, dass sich die Kirche für die Flüchtlinge einsetzt und dabei die Schweizer vergisst, fürchten Sie nicht?
Mit diesem Vorwurf wurde ich noch nie konfrontiert. Er lässt sich leicht widerlegen. Die Studie zu den gesamtgesellschaftlichen Leistungen, welche die Landeskirchen erbringen, hat auf vielfältige Weise gezeigt, in wie vielen Bereichen der Staat von der Kirche profitiert: in der Altersbetreuung oder Jugendarbeit, Angeboten für Arbeitslose und so weiter. Zudem sehen wir uns mit unserer Abstimmungsempfehlung durchaus an der Seite des Volkes. Das Stimmvolk hat 2011 zugestimmt, dass vorläufig Aufgenommene den anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt werden und Sozialhilfe erhalten.
Aber der Kanton Zürich gehört zu den grosszügigsten Kantonen. Auch der Bund empfiehlt unterschiedliche Ansätze für Sozialhilfeempfänger mit Niederlassungsbewilligung und vorläufig Aufgenommene.
Der Kanton Zürich ist auch ein teurer Kanton. Zudem hat sich das Modell ja bewährt. Wir haben ein gutes Zusammenleben. Nur noch Asylfürsorge zu gewähren, ist ein radikaler Schritt. Die neuen Ansätze lägen deutlich unter dem Existenzminimum. Damit würde sich die Wohnsituation der Betroffenen wohl massiv verschlechtern, was sicher negative Auswirkungen auf ihre Integration hätte.
Tiefere Ansätze, wie sie der Bund möchte, könnten Sie sich vorstellen?
Ich kann nur die Vorlage beurteilen, wie sie auf dem Tisch liegt. Vorgeschlagen wird eine massive Kürzung, die der Kirchenrat für falsch hält. Mögliche Alternativen zu prüfen, ist Aufgabe der Politik.
Die Befürworter der Vorlage sagen, dass die nach Skos-Richtlinien ausbezahlte Sozialhilfe falsche Anreize setze.
Ich glaube eher, die Reduktion auf die Asylfürsorge ist ein gefährliches Signal. Wer unter dem Existenzminimum und in einer schwierigen Wohnsituation lebt, fühlt sich nicht befähigt und ermutigt zu Teilhabe und Integration. Er droht zu resignieren und gewöhnt sich an den Müssiggang. Natürlich müssen Menschen, welche die Kriterien der Schutzbedürftigkeit nicht erfüllen, in ihre Heimatländer zurück. Ausschaffungen nach abgeschlossenen Verfahren gehören zu den rechtstaatlichen Prinzipien, die auch die Kirche hochhält. Doch solange die Menschen bei uns leben, sollen sie an der Gesellschaft teilhaben können.
Die Grosszügigkeit des Kantons Zürich hat sich bewährt?
Ja. Und sie ist vom Volk gewollt. Die Änderung des Sozialhilfegesetzes setzt nun eine bewährte Praxis unnötig aufs Spiel. Davor warnt der Kirchenrat durchaus auch im Namen all der Freiwilligen, die sich in Kirchgemeinden und Pfarreien im Flüchtlingsbereich engagieren.