Recherche 29. Januar 2020, von Nicola Mohler

«Das Trauma und die Probleme, die das lange Warten mit sich brachten, sind schwer auszuhalten»

Asyl

Die Äthioperin Rahel Tamerat erzählt aus ihrem Alltag mit Nothilfe und wieso sie davon ab­rät, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen.

Ende 2019 erhielten Sie den Entscheid, dass Sie in der Schweiz bleiben dürfen. Wie fühlen Sie sich?

Rahel Tamerat: Ich bin sehr glücklich, denn nun kann ich endlich mein Leben planen. Die letzten fünf Jahre habe ich verloren. Das Warten auf einen Entscheid, der Rückschlag der Abweisung und die Hoffnungen beim Rekursantrag waren zermürbend. Die letzten Jahre waren ein Leben ohne Würde und ohne jegliche Zukunftsperspektive.

Als abgewiesener Flüchtling lebten Sie über zwei Jahre von Nothilfe; pro Tag erhielten Sie acht Franken.

Das Wort «Nothilfe» empfinde ich als ein Unwort. Das ist keine Hilfe in einer solchen Not. Ich frage mich, wer diese acht Franken bestimmt hat. Sicher ist, diese Person hat nie versucht, mit dem Betrag täglich klarzukommen. Drei Mahlzeiten pro Tag sind selten möglich – von Süssigkeiten oder einem Kaffee ganz zu schweigen. Nicht nur Hygiene­artikel sind teuer, auch das Busticket. Da die Kollektivunterkünfte sich meist am Ortsrand befinden, kommt man nicht unter die Menschen. Hinzu kommt, dass man weder arbeiten noch Freiwilligenarbeit leisten noch einen Sprachkurs besuchen darf. Mein Status erlaubte mir auch nicht, den Kanton Bern zu verlassen. Ich lebte in ständiger Angst vor Polizeikontrollen.

Trotz aller Hürden sprechen Sie sehr gut Deutsch. Anfang Janu­ar haben Sie eine Stelle als Pflegehelferin angetreten; somit werden Sie unabhängig von der Sozialhilfe.

Ich hatte riesiges Glück, weil mir viele Menschen geholfen haben. Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre ohne die Unterstützung der Kirchgemeinde und «riggi-asyl». Dank ihnen konnte ich Deutsch lernen, erhielt gratis Wohnraum zur Verfügung gestellt und konnte auch einer unbezahlten Arbeit nachgehen – was mich von all den Problemen ablenkte. Dank den vielen Menschen habe ich mich in Riggisberg integriert und hier eine neue Heimat gefunden.

Ohne die Unterstütztung wäre wohl auch das Wiedererwägungsgesuch nicht zustande gekommen.

Absolut. Der Riggisberger Pfarrer Daniel Winkler engagiert sich für die Rechte der Flüchtlinge im Ort. Dank ihm kam der Kontakt zu einem guten Anwalt zustande.

Würden Sie Menschen vor einer Flucht in die Schweiz abraten?

Ja, solange das Asylverfahren nicht deutlich kürzer dauert, würde ich davon abraten. Der Entscheid, ob man die Schweiz verlassen muss oder sich hier ein Leben aufbauen kann, sollte rascher gefällt werden. Wie viele andere Frauen auch, erlebte ich auf meiner Flucht Gewalt. Sieben Monate verbrachte ich in einem libyischen Gefängnis. Traumatisiert kam ich dann in die Schweiz. Dieser Zustand und die Probleme, die das lange Warten mit sich brachten, sind schwer auszuhalten. Viele Flüchtlinge greifen in dieser Situation zum Alkohol, oder sie werden krank.

Rahel Tamerat, 30

Die Äthiopierin ist aus dem Sudan über das Mittelmeer in die Schweiz geflüchtet. 2014 kam sie in die Kollektivunterkunft Riggisberg. Nach zwei­maligem negativem Asylentscheid erhielt Tamerat nach einem Wie­der­erwägungsgesuch Ende 2019 eine humanitäre Aufnahme. Seit Anfang 2020 arbeitet sie im Rahmen ­einer 80-Prozent-Stelle als Hilfspflegerin im Schlossgarten Riggisberg.