Recherche 27. Oktober 2020, von Felix Reich

Was Rita Famos als EKS-Präsidentin erreichen will

Kirche

Rita Famos will Präsidentin der Evangelischen Kirche Schweiz (EKS) werden. Im Gespräch mit «reformiert.» sagt sie, warum es die EKS braucht und ob die Kirche einen Linksdrall hat.

Wenn Sie ein Kirchenmitglied nach all den Querelen rund um die EKS fragt, warum es diesen Verein überhaupt noch braucht: Was antworten Sie?

Rita Famos: Zur Einsicht, dass es die reformierte Kirche auf nationaler Ebene braucht, kamen die Landeskirchen bereits vor 100 Jahren, als sie den Kirchenbund gründeten. Ein wichtiger Grund war, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Kräfte für die Nothilfe im zerstörten Europa gebündelt werden mussten. Bis heute ist die EKS die Stifterin der grossen kirchlichen Hilfswerke. Es braucht die EKS auch, damit die Bundesbehörden eine Ansprechpartnerin haben und sich nicht einfach an die grossen Mitgliedkirchen in Bern oder Zürich wenden. Der Ausgleich zwischen den grossen und den kleinen Kirchen ist eine wichtige Aufgabe der EKS, sie ist eine Solidaritätsgemeinschaft.

Der Vielfalt und Solidarität zum Trotz sind es immer die Grossen, welche das Präsidium besetzen. Warum braucht es eine Zürcherin an der Spitze?

Woher die Präsidentin kommt, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass sie ihre Herkunft verlassen und zur Präsidentin für alle werden kann, ein offenes Ohr hat für die Anliegen aller Mitgliedkirchen. Professionalität zeigt sich darin, dass ich abstrahieren kann von meiner Sozialisation. Dafür ist die Spitalseelsorge, die ich leite, eine gute Schule. Dort habe ich es als reformierte Pfarrerin mit vielen Menschen zu tun, die überhaupt keinen kirchlichen Hintergrund haben. Die EKS profitiert aber auch davon, dass sich Persönlichkeiten aus grossen Landeskirchen zur Verfügung stellen. Ich leite eine Abteilung mit rund 100 Mitarbeitenden und arbeite im Leitungskonvent mit, wo ich die Themen der ganzen Landeskirche mitverantworte, also auch zum Beispiel Kirchenentwicklung, Ressourcen, Kommunikation. Da habe ich viel gelernt. 

In welcher Verfassung befindet sich die EKS?

Sie befindet sich in einem Schwebezustand. Sie war mit viel Enthusiasmus gestartet. Wegen persönlicher Geschichten geriet sie arg ins Schlingern. Seit dem Rücktritt von Gottfried Locher und Sabine Brändlin nehme ich eine abwartende Haltung wahr. Ich bin froh, dass wichtige Dossiers wie das Finanzreglement oder das Geschäftsreglement der Synode nun angepackt wurden. Für die Aufarbeitung wurde mit der externen Untersuchung und der parlamentarischen Kommission und der externen Meldestelle eine gute Lösung gefunden. Die Synode zeigte sich nach der extrem schwierigen Sitzung im Juni handlungsfähig, auch der Rat hält den Betrieb aufrecht. In der Geschäftsstelle gibt es viele gute Leute. Die EKS ist in einer schwierigen Situation, aber es kam nicht zum Grounding.

Die Auseinandersetzungen innerhalb des Rats hat bereits 200'000 Franken gekostet. Mit welchen Gefühlen betrachteten Sie die Rechnung?

Mit grossen Vorbehalten. Es ist sehr viel Geld ausgegeben worden. Insbesondere, dass rund ein Drittel der Summe für Kommunikationsagenturen ausgegeben wurde, ist sehr erklärungsbedürftig. Aber das ist ja auch ein Teil der Untersuchung.

Die EKS profitiert davon, dass sich Persönlichkeiten aus grossen Landeskirchen für Ämter zur Verfügung stellen.

Was reizt Sie am Präsidialamt der EKS?

Ich mag Herausforderungen und stelle mich gerne in den Dienst der Kirche, die ich liebe. In den Jahren, in denen ich Mitglied des Rates des Kirchenbundes war, lernte ich die nationale und internationale Ebene der reformierten Kirche und auch die ökumenischen Beziehungen schätzen. Wir haben 26 Kantone mit unterschiedlichen Reformationsgeschichten, diese Vielfalt fasziniert mich. Wir müssen zur Kirchengemeinschaft zusammenwachsen. Zugleich sollten wir die Vielfalt als Profil herausarbeiten. Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger. Die Fähigkeit, die Pluralität auszuhalten, ohne auseinanderzubrechen, ist eine Kompetenz, welche die reformierte Kirche in die Gesellschaft hineintragen könnte.

Gibt es reformierte Dogmen, die der Vielfalt Grenzen setzen?

Dogmen setzen keine Grenzen, sondern sind Grundlage für unsere Orientierungsfragen. Die reformierte Glaubensgemeinschaft basiert auf dem Schriftprinzip. Wir orientieren uns an Christus, der die Mitte der Schrift ist. Um die Auslegung der Schrift müssen wir gemeinsam ringen. Und die reformierten Kirchen berufen sich ganz klar auf die Trinität und die altkirchlichen und reformatorischen Glaubensbekenntnisse. Das ist die Grundlage, auf der wir uns den aktuellen Herausforderungen stellen.

Stichwort aktuelle Herausforderungen: Kann jemand ein guter Reformierter sein und Homosexualität für eine Sünde halten?

Meine Antwort hängt davon ab, wer diese Meinung äussert. Mit einem Kirchenmitglied ohne Amt und Auftrag trete ich ins Streitgespräch. Für eine Pfarrperson, die seelsorgerlich tätig ist, wäre eine solche Haltung nicht verantwortbar. Wenn eine ganze Gruppierung oder gar eine Mitgliedkirche diese Meinung vertritt, braucht es in der Synode eine Debatte über deren Status. Hinter die Erkenntnis, dass Homosexualität keine Sünde ist, sondern eine Art des Menschseins ist, kann die reformierte Kirche nicht mehr zurück. Natürlich dürfen sich Menschen der reformierten Kirche weiterhin zugehörig fühlen, obwohl sie diese Meinung nicht teilen.

Ist die Konzernverantwortungsinitiative eine gute Lösung?

Ich bin stolz auf unsere Hilfswerke, dass sie die Frage nach der Verantwortung der Konzerne für Umwelt und Menschenrechte auf die politische Agenda gesetzt haben. Die Kernaufgabe der Kirche hingegen ist nicht Politik, sondern nahe bei den Menschen zu sein und ihnen eine geistliche, spirituelle Heimat zu geben.

Ich bin stolz auf unsere Hilfswerke, dass sie die Frage nach der Verantwortung der Konzerne für Umwelt und Menschenrechte auf die politische Agenda gesetzt haben.

Die Kirche muss unpolitisch sein?

Nein. Wer nahe bei den Menschen ist und sieht, wie sie leiden, erkennt rasch, dass es manchmal auch strukturelle Gründe dafür gibt. Es ist unsere Aufgabe, diese Gründe zu benennen. Das löst wichtige politische Diskussionen aus.

Sie werden also für die Initiative stimmen?

Ja. Aber das ist meine persönliche Meinung. Die Kirche sollte zurückhaltend sein mit Abstimmungsparolen. Es gibt Ausnahmen, immer dann, wenn wir unseren Bekenntnisstand gefährdet sehen. Die Kirchen können jedoch wichtige Themen so aufarbeiten, dass die Mitglieder die theologisch-ethischen Grundlagen zur Verfügung haben. Als ich im Rat SEK war, haben wir bei mehreren Abstimmungen das Instrument «10 Fragen, 10 Antworten» angewendet und so versucht, die Fragestellung theologisch-ethisch auszuleuchten. Das finde ich nach wie vor ein hilfreiches Vorgehen.

Nachdem der EKS-Rat sich für die Konzernverantwortungsinitiative ausgesprochen hatte, gründete ein Ratsmitglied sogleich ein kirchliches Nein-Komitee. Was sagt das über die Kollegialität im Rat aus?

Ich weiss nicht, wie die Debatte innerhalb des Rats geführt wurde und was mit der Minderheitsposition abgemacht wurde.  Ich habe jedoch den Eindruck, dass der Meinungsbildungsprozess innerhalb der EKS nicht sauber geführt wurde. Als Präsidentin wäre mir wichtig, dass die Mitgliedkirchen besser einbezogen werden und der Rat frühzeitig diskutiert, wie er mit abweichenden Meinungen innerhalb des Gremiums umgeht.

Wenn sich Menschen, die sich als konservativ oder bürgerlich bezeichnen, in der Kirche nicht mehr heimisch fühlen: Haben Sie Verständnis dafür?

Ich kenne privat etliche überzeugte Reformierte, die Unternehmerinnen und Unternehmer sind. Da treffe ich zunehmend Leute, die mit eher linkspolitischen Positionsbezügen der Kirche Mühe haben. Wir müssen Sorge tragen, dass Menschen verschiedenster theologischer und politischer Ausrichtung eine geistliche Heimat finden und dass wir im konstruktiven Ideenaustausch und Diskurs bleiben ohne die eine Seite zu verlieren.

Die Kirche hat also einen Linksdrall?

So pauschal lässt sich das nicht sagen. Es kommt ja auch auf die Kantonalkirche an. Entscheidend für die Kirche ist, dass sie sich in ihren Positionsbezügen nicht abhängig macht von Lobbying-Gruppen oder politischen Parteien. In der Kirche gibt es Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Einstellungen. Wenn ich die Botschaft von Jesus richtig verstehe, geht es doch darum, all diese Menschen an einen Tisch zu bringen. Ich möchte, dass die Kirche ein geschützter Raum ist, in dem sich diskutieren lässt, ohne dass wir uns vorschnell gegenseitig den richtigen Glauben absprechen. Arenen, in denen unversöhnlich gestritten wird, haben wir genug.

Ich treffe zunehmend Leute, die mit eher linkspolitischen Positionsbezügen der Kirche Mühe haben.

Welche Ziele möchten Sie in der Ökumene erreichen?

Auch da sollten wir uns auf das Verbindende und das gemeinsame Engagement konzentrieren. Gerade im Kanton Zürich arbeiten die beiden Kirchen in so vielen Fragen gut zusammen. Es ist bedauerlich, dass es in der Abendmahlsfrage nicht vorwärts geht. Aber davon dürfen wir uns nicht lähmen lassen, sondern sollten über die Konfessionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten, wo es eben geht.In der Spitalseelsorge, Gefängnisseelsorge, in den diakonischen Projekten ist das Alltag.

Und wie wichtig ist der interreligiöse Dialog?

Vom Rat der Religionen auf nationaler Ebene war in letzter Zeit nur etwas zu hören, wenn wieder etwas Schreckliches passierte in der Welt und er sein Beileid ausdrückte. Interreligiöser Dialog gelingt aber vor allem dann, wenn es konkret wird. In Zürich haben wir das Pilotprojekt der muslimischen Seelsorge im Bundesasylzentrum lanciert. Auf diese Idee hätte auch der Rat der Religionen kommen können. Vielleicht ist die Ausbildung Geistlicher aus anderen Ländern und Religionen ein Thema, dem er sich annehmen sollte.

Rita Famos (54)

Seit 2013 leitet Rita Famos die Abteilung für Spezialseelsorge der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Die Pfarrerin wurde 1993 durch die Berner Kirche ordiniert und war danach 18 Jahre lang als Gemeindepfarrerin in Uster und Zürich tätig. Acht Jahre politisierte sie in der Zürcher Synode, 2011 wurde sie in den Rat des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK) gewählt. Bis 2014 blieb sie im Rat und war Präsidiumsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der Schweiz. Bereits 2018 kandidierte sie für das Präsidum des SEK. Die Nachfolgerin des zurückgetretenen Präsidenten Gottfried Locher wählt die EKS-Synode am 2. November. Auch die von der Waadtländer Kirche vorgeschlagene Pfarrerin Isabelle Graesslé kandidiert für das Präsidum.