Warum wollen Sie Präsidentin der Evangelischen Kirche Schweiz werden?
Isabelle Graesslé: Seit 34 Jahren stand keine französischsprachige Person mehr an der Spitze des Kirchenbundes, der heutigen Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Europaweit ist der Protestantismus im Begriff, eine Minderheitsreligion zu werden. Die Westschweizer Kirchen haben schon einige Erfahrung damit, sich neu zu erfinden. Diese Erfahrung und meine Überlegungen zu einer Theologie des Übergangs würde ich gerne auf gesamtschweizerischer Ebene einbringen.
Warum braucht es eine Theologie des Übergangs?
Wir leben in einer einzigartigen Zeit, unsere Zivilisation steht vor einer tiefgreifenden Veränderung. Das sieht man in der Politik, in der Gesellschaft mit sich wandelnden Werten, an den rasanten Entwicklungen in der Wissenschaft, mit der künstlichen Intelligenz zum Beispiel. Dieser Umbruch hat schon vor 20, 30 Jahren begonnen und wird nochmal solange dauern. Das Szenario ist ähnlich wie im 16. Jahrhundert, als sich die ganze Weltanschauung nicht zuletzt wegen der Reformation komplett verändert hat. Zwar berichten uns die Soziologen, dass sich die Menschen heute ungebrochen für spirituelle Fragen und Praktiken interessieren. Dennoch wenden sie sich von den traditionellen Kirchen ab. Diese aktuellen Herausforderungen für die Kirchen möchte ich mitbegleiten. Alles verändert sich fundamental. Deswegen muss sich auch die Kirche verändern.
Und wie kann sie das konkret tun?
Ich träume von einer EKS, die mitten in der Gesellschaft steht, das Gespräch mit der Philosophie, der Soziologe, der Kunst sucht. Und die sich immer neu fragt: Worauf können wir verzichten? Wie können wir uns neu erfinden? Der Protestantismus hat das ja eigentlich in seiner DNA festgeschrieben mit dem Grundsatz der Reformatoren «Semper reformanda», eine Kirche, die sich immer wieder erneuert.
In welcher Verfassung befindet sich die EKS? Wird sie aus der Krise herausfinden?
Davon bin ich überzeugt. Was genau vorgefallen ist und ob alles korrekt gelaufen ist, wird zurzeit durch die Untersuchungskommission der Synode und die beauftragte Anwaltskanzlei geklärt. Ich möchte da nicht vorgreifen und mich auch nicht in deren Arbeit einmischen. Wenn der Bericht vorliegt, gilt es zu überprüfen, ob an den Strukturen oder an der Arbeitsweise etwas verändert werden muss. Für mich ist 2020 aber nicht nur das Krisenjahr, sondern auch das Jahr des Übergangs von einem Kirchenbund zu einer Kirchengemeinschaft mit neuer Verfassung. Unter den schwierigen Umständen wurde das noch gar nicht festlich und freudvoll gefeiert. Das möchte ich nachholen - vorausgesetzt ich überzeuge mit meinem Vorschlag.