Recherche 28. Oktober 2020, von Christa Amstutz Gafner

Was Isabelle Graesslé als EKS-Präsidentin erreichen möchte

Kirche

Die Pfarrrerin Isabelle Graesslé will Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz werden. Sie verlangt, dass die Kirche bereit ist, sich neu aufzustellen.

Warum wollen Sie Präsidentin der Evangelischen Kirche Schweiz werden?

Isabelle Graesslé: Seit 34 Jahren stand keine französischsprachige Person mehr an der Spitze des Kirchenbundes, der heutigen Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Europaweit ist der Protestantismus im Begriff, eine Minderheitsreligion zu werden. Die Westschweizer Kirchen haben schon einige Erfahrung damit, sich neu zu erfinden. Diese Erfahrung und meine Überlegungen zu einer Theologie des Übergangs würde ich gerne auf gesamtschweizerischer Ebene einbringen.

Warum braucht es eine Theologie des Übergangs?

Wir leben in einer einzigartigen Zeit, unsere Zivilisation steht vor einer tiefgreifenden Veränderung. Das sieht man in der Politik, in der Gesellschaft mit sich wandelnden Werten, an den rasanten Entwicklungen in der Wissenschaft, mit der künstlichen Intelligenz zum Beispiel. Dieser Umbruch hat schon vor 20, 30 Jahren begonnen und wird nochmal solange dauern. Das Szenario ist ähnlich wie im 16. Jahrhundert, als sich die ganze Weltanschauung nicht zuletzt wegen der Reformation komplett verändert hat. Zwar berichten uns die Soziologen, dass sich die Menschen heute ungebrochen für spirituelle Fragen und Praktiken interessieren. Dennoch wenden sie sich von den traditionellen Kirchen ab. Diese aktuellen Herausforderungen für die Kirchen möchte ich mitbegleiten. Alles verändert sich fundamental. Deswegen muss sich auch die Kirche verändern.

Und wie kann sie das konkret tun?

Ich träume von einer EKS, die mitten in der Gesellschaft steht, das Gespräch mit der Philosophie, der Soziologe, der Kunst sucht. Und die sich immer neu fragt: Worauf können wir verzichten? Wie können wir uns neu erfinden? Der Protestantismus hat das ja eigentlich in seiner DNA festgeschrieben mit dem Grundsatz der Reformatoren «Semper reformanda», eine Kirche, die sich immer wieder erneuert.

In welcher Verfassung befindet sich die EKS? Wird sie aus der Krise herausfinden?

Davon bin ich überzeugt. Was genau vorgefallen ist und ob alles korrekt gelaufen ist, wird zurzeit durch die Untersuchungskommission der Synode und die beauftragte Anwaltskanzlei geklärt. Ich möchte da nicht vorgreifen und mich auch nicht in deren Arbeit einmischen. Wenn der Bericht vorliegt, gilt es zu überprüfen, ob an den Strukturen oder an der Arbeitsweise etwas verändert werden muss. Für mich ist 2020 aber nicht nur das Krisenjahr, sondern auch das Jahr des Übergangs von einem Kirchenbund zu einer Kirchengemeinschaft mit neuer Verfassung. Unter den schwierigen Umständen wurde das noch gar nicht festlich und freudvoll gefeiert. Das möchte ich nachholen - vorausgesetzt ich überzeuge mit meinem Vorschlag.

Ich träume von einer EKS, die mitten in der Gesellschaft steht, das Gespräch mit der Philosophie, der Soziologe, der Kunst sucht.

Welche reformierten Dogmen gelten für Sie heute noch?

Dogmen im Sinn von starken Ideen, die uns tragen: Einige! Die Gewissensfreiheit zum Beispiel ist ein essenziell reformierter Wert. Luthers «Freiheit des Christenmenschen» hat alle Zeiten und Dispute überstanden. Ebenso die reformatorischen Grundsätze Sola gratia, Sola scriptura, Sola fide – allein die Gnade, die Schrift, der Glaube. Doch diese Grundsätze müssen immer weitergeschrieben werden. Was bedeutet die Gnade Gottes für Menschen heute? Was heisst «Semper reformanda» für die Kirche in einer Gesellschaft im Umbruch?

Sie haben sich stark mit feministischer Theologie befasst. Was davon möchten Sie in die EKS einbringen?

Ganz wichtig ist mir: Die feministische Sichtweise sensibilisiert dafür, dass Theologie immer an den eigenen Standpunkt gebunden ist. In der Vergangenheit wurde sie meist aus einer männlichen Perspektive formuliert und spiegelt deswegen eine komplexe Macht- und Gesellschaftsgeschichte, die es zu dekonstruieren gilt. Die Erkenntnis, dass es keine neutrale Theologie gibt, und somit Geltendes immer neu hinterfragt werden soll, ist wertvoll für die Zukunft der Kirchen.

Kann jemand ein guter Reformierter sein und Homosexualität für Sünde halten?

Ich setzte mich seit vielen Jahren dafür ein, dass homosexuelle Menschen als die gleichwertigen Menschen behandelt werden, die sie sind. Mit Personen, die sich damit schwertun, diskutiere ich gerne. Zuerst darüber, was ein guter Christ, eine gute Christin ist. Denn wir alle sind unvollkommen, machen uns immer wieder schuldig, so sehr wir uns auch anstrengen. Und ich möchte fragen, warum eine andere sexuelle Orientierung Sünde ist. Dabei würde ich nicht mit Bibelstellen argumentieren, das hilft nicht weiter. In der Bibel findet man zu fast allem eine Position und Gegenposition.

Mit dem Ja der EKS zur Ehe für alle sind einige Kirchenmitglieder nicht glücklich.

Zu jeder Stellungnahme gibt es eine Mehrheit und eine Minderheit. In der heutigen Gesellschaft befürwortet eine grosse Mehrheit die Ehe für alle. Ich denke, das dürfte auch unter den Kirchenmitgliedern so sein. Klar ist, dass man immer das Recht haben muss, anderer Meinung zu sein. Darum können Pfarrpersonen sich auch von Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare dispensieren lassen. Im Übrigen muss man sich bewusst sein, dass die Nachfrage für das Angebot sehr klein sein wird. Denn auch heterosexuelle Paaren lassen sich immer seltener in der Kirche trauen. In den drei Jahren als Pfarrerin in Prilly konnte ich gerade mal drei Trauungen feiern und damit stehe ich nicht allein da. Sogar die Abdankungen werden immer weniger, die letzte hatte ich Mitte August.

Wie stehen Sie zur Konzernverantwortungsinitiative, die für heftige innerkirchliche Debatten sorgt?

Ich werde Ja stimmen. Das heisst nicht, dass die Kirche zu jeder politischen Frage Stellung beziehen soll. Sie ist gut beraten, sich nur dann zu äussern, wenn es um Fragen geht, die in einem direkten Zusammenhang mit ihren Grundwerten und ihrem Auftrag stehen. Bei der Konzernverantwortungsinitiative trifft das für mich zu. Die Kirchen haben lange gebraucht, um anzuerkennen das Menschenrechte und Bewahrung der Schöpfung Grundanliegen der christlichen Ethik sind. Mittlerweile ist dies ökumenischer Konsens. Darum ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, dass die EKS die Initiative unterstützt.

Nachdem der EKS-Rat sich für die Initiative ausgesprochen hatte, gründete ein Ratsmitglied ein kirchliches Nein-Komitee. Was sagt das über die Kollegialität aus?

Zur Kollegialitätsfrage möchte ich mich nicht äussern, weil ich an der Entscheidfindung nicht beteiligt war.

Die Kirchen haben lange gebraucht, um anzuerkennen das Menschenrechte und Bewahrung der Schöpfung Grundanliegen der christlichen Ethik sind. Darum ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die EKS die KVI unterstützt.

Viele Menschen, die sich als konservativ oder bürgerlich bezeichnen, fühlen sich in der Kirche nicht mehr heimisch. Was tun?

Ich habe kein Wunderrezept. Es gilt aber unbedingt, Diskussionsräume zu bewahren und weitere zu schaffen, wo sich die Mehrheit wie die Minderheit gehört fühlen. Wir sind in vielen Fragen nicht einer Meinung. Darum ist es umso wichtiger, herauszufinden, was uns trotz aller Unstimmigkeiten verbindet und gemeinsam trägt. Ich glaube, da ist immer noch mehr Gemeinsames als Trennendes. Dieses Fundament sollten wir pflegen.

Welche Ziele möchten Sie in der Ökumene erreichen?

Die Ökumene des 20. Jahrhunderts gehört der Vergangenheit an. Damals ging es darum, sich zu treffen, Vereinbarungen auszuhandeln und Texte über theologische und kirchliche Anerkennungen zu schreiben. Damit kommen wir nicht mehr weiter. Wir müssen uns eingestehen, dass es Themen gibt, zu denen wir uns nie einigen werden. Es gilt vielmehr zu fragen: Was verbindet uns, wo können wir mit einer christlichen Stimme sprechen? Heutige Ökumene heisst für mich, zusammen den gesellschaftlichen Diskurs zu gestalten, zum Beispiel in der Klimafrage oder bei humanitärer Hilfe.

Und der interreligiöse Dialog?

Ich möchte vor allem die Zusammenarbeit unter den abrahamitischen Religionen Christentum, Judentum und Islam intensivieren. Auch um den Islam darin zu unterstützen, sich aus theologischer und finanzieller Abhängigkeit vom Ausland zu lösen und einen eigenständigen schweizerischen Islam zu entwickeln.

Sie leben in Genf, arbeiten als Pfarrerin im Waadtland. Was verbindet Sie mit den beiden Kirchen?

In Genf erlebe ich, was es heisst Kirche zu sein in einem sehr laizistischen Umfeld und dabei komplett auf Spenden angewiesen zu sein. An der Waadtländer Kirche gefällt mit, dass sie sich jetzt schon bewegt, nach neuen Wegen sucht, obwohl ihre finanzielle Situation noch nicht mit der von Genf oder Neuenburg vergleichbar ist. Damit ist auch viel Verzicht verbunden.

Womit wir wieder beim Übergang wären.

Übergang bedeutet immer auch Verzicht. Man muss viel zurücklassen, um biblisch gesprochen das Rote Meer oder die Wüste zu durchqueren – ganz zu schweigen vom Weg bis zur Auferstehung. Die heutige Situation ist für die Kirchen fordernd: Sie müssen auf jeden Fall die Menschen weiterbegleiten, die an traditionellen Angeboten hängen, für die es bald keine Nachfrage mehr gibt. Und gleichzeitig gilt es, ganz neue spirituelle Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen.

Isabelle Graesslé (61)

Die habilitierte Theologin ist seit 2018 Pfarrerin in Prilly VD. Von 2004 bis 2016 war sie Direktorin des Internationalen Museums der Reformation in Genf. In Genf wirkte sie zuvor als erste Frau Moderatorin der Pfarrgesellschaft. Graesslé engagierte sich zudem in internationalen ökumenischen Gremien und in der Theologiekommission des früheren Kirchenbunds SEK. Die Elsässerin lebt seit 33 Jahren in der Schweiz. Am 2. November wählt die Synode die neue EKS-Präsidentin. Neben Graesslé tritt Pfarrerin Rita Famos zu Wahl an.