Recherche 01. Januar 2020, von Felix Reich

«Menschenrechte sind keine Verhandlungsmasse»

Kirche

Der Kirchenbund ist jetzt die Evangelische Kirche Schweiz. Ihr Präsident Gottfried Locher stärkt den Initianten der Konzernverantwortungsinitiative den Rücken.

Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund wird zur Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Was verändert sich für die Reformierten in der Schweiz?

Gottfried Locher: Vor langer Zeit haben sich die Kantone zur Eidgenossenschaft zusammengeschlossen. Heute schliessen sich die Kantonal­kirchen zur Kirchengemeinschaft zusammen. Gemeinsam sind die Kir­chen stärker als alleine. Wer vom ei­nen Kanton in den anderen umzieht, der bleibt doch immer in der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Das gibt Heimat. Am Gemeindeleben vor Ort ändert sich aber nichts. Das ist gut so. Zentralismus muss vermieden werden.

Zuletzt sprach sich der Rat des Kirchenbunds gegen Waffenexporte aus, für die Ehe für alle und für Haf­tungsregeln für Schweizer Firmen, die Menschenrechte und Um­weltstandards verletzen. Ist der Rat politischer geworden?

Zwei Millionen Menschen sind in der Schweiz reformiert. Sie haben ein Recht darauf zu hören, was ihre Kirche denkt. Der Rat steht ein für das Evangelium von Jesus Christus, so wie er es versteht und in die heutige Zeit übersetzt.

Bei der Konzernverantwortungsini­tiative hat der Rat das Feld dem Hilfswerk Brot für alle überlassen, bis Sie im September die Wirtschaft an ihre Verantwortung, «den Menschen zu dienen», erinnerten. Warum dieser Strategiewechsel?

Wir freuen uns, wenn sich unsere Hilfswerke engagieren. Sie wissen, was das wirtschaftliche Handeln von Schweizer Unternehmen im Ausland an Gutem wie auch an Problematischem bewirkt. Wir stehen zur Arbeit unserer Hilfswerke. Darum hat der Rat nun auch öffentlich Stellung bezogen. Der Rat unterstützt die Forderungen der Konzernverantwortungsinitiative und verlangt vom Parlament einen griffigen Gegenvorschlag.

Unterstützt der Rat die Initianten auch, wenn der Gegenvorschlag scheitert und über den unveränderten Initiativtext abgestimmt wird?

Kommt es in der Sache zu keinen nennenswerten Verbesserungen, wer­­den wir den Initianten den Rücken stärken. Die Menschenrechte sind keine Verhandlungsmasse. In der Verfassung der EKS steht nicht grundlos: Unsere Kirche tritt ein für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.

Das Ja des Kirchenbunds zur Ehe für alle führte zu Spannungen mit der Schweizerischen Evangelischen Allianz, der neben Freikirchen auch reformierte Gemeinden angehören. Fürchten Sie eine Spaltung?

Auch in meinem Freundeskreis gibt es Kritik und Unterstützung. Der reformierte christliche Glaube hat viele Gesichter. Wir können argumentieren, streiten und dann entscheiden. Abstimmungen in wichtigen Fragen führen in der Schweiz nicht gleich zu Spaltungen, auch nicht in unserer Kirche. Demokratie ist Teil der reformierten DNA.

Was sagen Sie jemandem, der wegen des gesellschaftsliberalen Kurses der Reformierten aus der Kirche austreten will?

Ich sage ihm, dass wir ihn brauchen in unserer Kirche. Wir brauchen Menschen, die mit uns das Evangelium von Jesus Christus verkündigen in Wort und Tat. Die Ansichten darüber, wie das geht, sind verschie­den. Kirche sein heisst: Spannungen aushalten und trotzdem zusammenbleiben. Nicht selten zeigt sich im Nachhinein, dass Andersdenken­de auch nicht ganz unrecht hatten. Wir brauchen alle einander.

Was ist eine gute Familie?

Wahrscheinlich gibt es viele Antworten darauf. Für mich bedeutet Familie Sicherheit. Hier bin ich geliebt, wie ich bin. Das ist nicht immer nur harmonisch, manchmal ner­ven wir einander auch. Aber am Schluss überwiegt doch immer wieder die gegenseitige Liebe. Familie heisst: Miteinander durchs Leben gehen, komme, was wolle.

Gegner der Ehe für alle begründen ihre Position mit ihrem Bibelverständnis und berufen sich auf Bibelstellen, die homosexuelle Praktiken verurteilen oder die Ehe allein als Verbindung zwischen Mann und Frau beschreiben. Was ist ein reformiertes Bibelverständnis?

Eines, welches das Evangelium als Ganzes befragt. Wovon spricht Jesus Christus, wofür hat er gelebt und wofür ist er gestorben? Was wird dort als gut für die Welt beschrieben, für die Menschen, für uns, und was nicht? Reformiertes Bibellesen verlangt eine Gesamtschau. Wir können die Bibel nicht in Einzelteile zerlegen und dann als Beweismittelsammlung für oder gegen dies oder jenes verwenden. Das ist das biblizistische Missverständnis. Ebenso wenig sollten wir freilich den gerade wehenden Zeitgeist mit Bibelzitaten ausschmücken, bis die Bibel uns das sagt, was wir wollen, dass sie uns sagt. Das reformierte Bibelverständnis ist anspruchsvoll: Sag mir etwas, was relevant ist für mein Leben, aber sprich mir nicht nach dem Mund.

Die EKS hat einen neuen Namen und ein neues Logo. Bekommt sie auch eine neue Identität?

Im Kern nicht. Was die Kirche ist, woher sie kommt und wohin sie geht, hängt nicht vom Namen ab. Aber wir passen uns dem Leben an, wie es heute ist. Tun wir doch gemeinsam, was gemeinsam besser geht als jeder für sich. Und bleiben wir vielfältig, das ist unsere Stärke. Die neue EKS ist Kirche für heute. Sie sieht anders aus als die Kirche von gestern. Aber sie folgt immer noch Christus. Das tut sie, bis es sie einmal nicht mehr brauchen wird.

Der Schweizer Protestantismus ist von Vielfalt geprägt von Diaspora-Kirchen über vollständig vom Staat getrennte Kirchen bis hin zu Landeskirchen mit Steuerprivile­gien. Kann es unter diesen Vorzeichen überhaupt eine einzige Evan­gelische Kirche der Schweiz geben?

Die EKS ist Kirchen-Gemeinschaft, nicht Super-Kirche. Reformierte Kir­che ist Kirche von unten. Das gut eidgenössische Subsidiaritätsprinzip ist auch gut reformiert. Aber einige Aufgaben können wir viel besser miteinander erledigen, zum Beispiel die Beziehungsarbeit mit Bundesbehörden, anderen Kirchen, anderen Religionen, mit Kirchen im Ausland, ebenso die theologische Grund­lagenarbeit, Stellungnahmen und Positionen zu öffentlichen Fragen. Aber auch die ganze Arbeit auf dem Gebiet der Migrationsseelsorge oder die Dia­konie. Und was in Zukunft noch wichtiger sein wird: der Austausch unter unseren Kirchen. Wir könnten so viel voneinander lernen! Für all das braucht es die EKS.

Welche ist die zentrale Herausforde­rung, vor der die EKS nun steht?

Wirgefühl statt Zentralismus: Das ist mein wichtigstes Anliegen für die Zeit, die vor uns liegt. Die Beteiligung der Kantonalkirchen an den Geschicken der EKS muss erhöht werden. Denn unsere Kirche lebt immer auf drei Ebenen zugleich: in der Gemeinde, im Kanton und gesamtschweizerisch. Das Gemeinde­leben ist das wichtigste. Die EKS soll die Kirchen dabei unterstützen. Nun hoffen wir, dass das gelingt. Dafür haben sich viele Menschen während vieler Jahre mit viel Herzblut eingesetzt.

Evangelische Kirche Schweiz

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) gründet auf der Verfassung, die am 1. Januar 2020 in Kraft gesetzt wird. Sie ersetzt den Schweize­rischen Evangelischen Kirchenbund, der 1920 gegründet wurde. Unverändert gehören ihr die 24 reformierten Kan­tonalkirchen sowie die Evangelisch-methodistische Kirche in der Schweiz und die Eglise Evangélique ­Libre de Genève an. Die neue Verfassung wurde von 2014 bis 2019 erarbeitet. Die Synode ersetzt die Abgeordnetenversammlung als Legislative. Sieben Ratsmitglieder bilden weiterhin die Exekutive. Der promovierte Theologe Gottfried Locher (53) ist seit 2011 ihr vollamtlicher Präsident.