«Wie ein Adler, der seine Brut aufstört zum Flug und über seinen Jungen schwebt, so breitete er seine Flügel aus, nahm es und trug es auf seinen Schwingen.» (Moses 5,32). Gott: ein Adler – das ist ein schönes Bild. Was die idyllische Vison etwas trübt: Die Brutpflege bei den Adlern ist nicht so barmherzig, wie es das Bibelwort nahelegt. Denn das Zweitgeborene, das als Reserve im Nest ausgebrütet wird, bekommt weniger Futter, und zum Schluss wird es oft vom Erstgeborenen gefressen. In der Tierwelt geht es um den Erhalt der Art und nicht um das Überleben des Einzelnen. Das sieht für uns erbarmungslos aus. Aber Barmherzigkeit ist – zumindest unter günstigen Umständen – den Menschen vorbehalten.
Das Undenkbare denken
Für mich als Wissenschaftler ist klar: Wir sollten die Bibel als ein Weisheitsbuch lesen, das uns mit seinen symbolischen Geschichten viel lehrt. Es gilt, den verbogenen Sinn zu entschlüsseln und nicht zu versuchen, aus der Bibel das Alter der Erde zu bestimmen oder detailliert die Abstammung der Tierwelt von den Arche-Noah-Vorfahren abzuleiten. Wissenschaft liebt das Faktengestützte und Beweisbare. Glaube dagegen will das Undenkbare denken, um schliesslich zu erkennen, dass dies nicht gedacht werden kann. Die beiden darf man ruhig nebeneinander stehen lassen. Das hat mein Vorfahre, der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli, so schön formuliert: «Was aber Gott ist, das wissen wir aus uns ebensowenig, wie ein Käfer weiss, was der Mensch ist.»
Was mir an dem Adlerbild gut gefällt, ist, dass hier nicht ein Allmächtiger die Geschicke der Menschen bestimmt, sondern Gott geradezu mit einem Schubs die Jungen in die Selbstständigkeit stösst. Der Mensch soll selbstverantwortlich handeln, soll auch etwas riskieren und dennoch wissen: Da ist ein Netz, das ihn, falls er zu tief fällt, wieder auffängt.