Schwerpunkt 23. März 2022, von Marius Schären

Wie wenig Besitz zu mehr Moral führt

Hiob

Bröckelt die Moral, sobald es Menschen materiell schlecht geht? Die Sozialanthropologin Julia Büsser widerspricht mit Beispielen indigener Gemeinschaften im Amanzonasgebiet.

Das Misstrauen

Im Prolog des Hiobbuchs versucht der Satan bei Gott den Verdacht zu wecken, dass Hiob nur deshalb so fromm sei, weil ihn Gott mit Gesundheit und Reichtum beschenke. Der Verdacht, dass die Moral brö­ckelt, sobald es Menschen materiell schlecht geht, ist weitverbreitet. Die Sozialanthropologin Julia Büsser widerspricht mit Erkennt­nissen über indigene Gemeinschaften. Dort sei die Anhäufung von Gütern verpönt und das Teilen ein wichtiges Element des Wertekanons.

Tupinambá, Munduruku und Yanomami: Mit diesen indigenen Gemeinschaften im brasilianischen Amazonas befasst sich die Sozial­anthropologin Julia Büsser unter anderem. Sie ist bei der Gesellschaft für bedrohte Völker für Indigenenrechte verantwortlich. «Ein herausragendes Charakteristikum bei allen drei ist die zentrale Bedeutung der Gemeinschaft», sagt Büsser.

Im Alltag äussert sich das zum Beispiel darin, dass das Territorium von allen Mitgliedern gemeinsam bewirtschaftet wird und somit ein Kollektivgut ist. Ebenso würden Entscheide meist nicht von Einzelpersonen, sondern vom Kollektiv gefällt. «Ausserdem beleben und stärken Riten und Bräuche die Bedeutung kommunaler Güter.»

Was als ethisch und moralisch gilt, kann sich von Kultur zu Kultur unterscheiden und ist somit relativ.
Julia Büsser, Sozialanthropologin

Das Weltbild der Gemeinschaften im Amazonas sieht Julia Büsser als holistisch, ganzheitlich. Die Menschen seien unter sich verbunden und darüber hinaus mit ihrer Umwelt. So habe Juarez Munduruku, Leader der Munduruku, gesagt: «Die Flüsse waren Munduruku, die Tiere im Wald waren Munduruku, die Fische waren Munduruku.»

Relativ und universell

Auch am Beispiel der Yanomami veranschaulicht die Sozialanthropologin die Bedeutung der Gemeinschaftlichkeit: Die Anhäufung in­dividueller Güter gelte bei dieser grössten der drei genannten Gemeinschaften als verpönt. «Umgekehrt sind der Tausch und das Teilen von Gütern Teil des Wertekanons und auch der Diplomatie.» Gegen diese Werte zu verstossen, stelle den grösstmöglichen Affront dar.

Bezüglich Ethik und Moral folgert Büsser: «Was als ethisch und moralisch gilt, kann sich von Kultur zu Kultur unterscheiden und ist somit relativ.» Dennoch gilt mit der Menschenrechtscharta und weiteren Deklarationen ein universeller Katalog von Konventionen. Büsser erklärt: «Wenn wir uns daran orientieren, würde ich eindeutig der Hypothese widersprechen, dass unsere westlichen zivilisatorischen Errungenschaften mit mehr Ethik und Moral einhergehen.»

Innerhalb traditioneller und indigener Gemeinschaften sind die Lebensbedingungen, die wirtschaftliche Situation und der Besitz von Gütern stärker von der Gleichheit geprägt als in unseren westlichen Gesellschaften.
Julia Büsser, Sozialanthropologin

Insbesondere bei ihrer Arbeit für eine Menschenrechtsorganisation sieht Büsser zu oft Beispiele, bei denen sogenannt westliche Staaten oder Firmen die Rechte indigener Gemeinschaften verletzen, etwa das Recht auf eine unversehrte Umwelt, auf Land und auf Nahrung.

Alle voneinander abhängig

Die eine indigene Lebensform gebe es nicht, und die Kollektive kämen auch immer mehr mit westlichen Werten in Kontakt. Trotzdem hält Büsser fest: «Innerhalb traditioneller und indigener Gemeinschaften sind die Lebensbedingungen, die wirtschaftliche Situation und der Besitz von Gütern stärker von der Gleichheit geprägt als in unseren westlichen Gesellschaften.»

Vielleicht sei es eher die Ungleichheit in einer Gesellschaft, die das Ausmass des moralischen und ethischen Handelns bestimme, sagt Büsser. Somit wäre nicht der im Prolog zum Hiobbuch vom Satan angeführte Wohlstand Ursache dafür, dass jemand sein Leben «schuldlos und aufrecht» (Hiob 1,8) gestaltet, sondern es gäbe andere Kräfte, die den moralischen Kompass ausrichten.

«Lernen können alle voneinander», sagt die Sozialanthropologin Julia Büsser. Menschenrechte und individuelle Entwicklung einerseits und die ganzheitliche Weltanschauung anderseits, die viele indigene Gemeinschaften pflegten, hätten ihre Berechtigung. «Um die grössten Krisen zu bewältigen, werden die Menschen sich wieder vermehrt an der Erkenntnis ausrichten müssen, dass sie voneinander und von der Umwelt abhängen.»