Schwerpunkt 23. März 2022, von Anouk Holthuizen

Weshalb ein Sündenbock heilsam sein kann

Hiob

In seiner Klage verflucht Hiob den Tag seiner eigenen Geburt. Theologieprofessor Ralph Kunz sagt, das Leid lasse sich besser ver­arbeiten, wenn die Klage einen Adressaten habe.

Die Klage

In seiner Klage verflucht Hiob den Tag seiner eigenen Geburt. Der Theologieprofessor Ralph Kunz kennt die Trauer und die Wut über einen Schicksalsschlag aus vielen Gesprächen in der Seelsorge, aber auch aus eigener Erfahrung. Er sagt, dass sich das Leid besser ver­arbeiten lasse, wenn die Klage einen Adressaten habe. Für Hiob steht das Gegenüber, das er anklagt, nie in Zwei­fel: Er zieht Gott zur Rechenschaft für Armut und Krankheit, die er als ungerechte Strafe empfindet.

Warum ich? Warum tut Gott, das Schicksal, mir das an? Wäre ich doch nie geboren worden! Ralph Kunz ist Aussagen wie diesen in seiner Tä­­tigkeit als Seelsorger oft begegnet. Ausrufe der Verzweiflung, die Menschen nach einer schlimmen Dia­gnose, einem schweren Unfall oder nach anderen Schicksalsschlägen machen: wütende, traurige Klagen. Er kennt sie aus eigener Erfahrung: Mit 19 Jahren warf ihn eine lebensbedrohliche Krankheit aus der vermeintlichen Selbstverständlichkeit des Lebens.

Heute ist Kunz Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich mit den Schwerpunkten Predigt, Gottesdienst und Seelsorge. Er setzt sich auch als Forscher mit dem Umgang mit existenziellen Leiderfahrungen auseinander und weiss: Der verzweifelte Ausruf, warum nun alles so brutal aus der Bahn gerät, kann Teil einer heilsamen Auseinandersetzung mit Schicksalsschlägen sein. Ein Prozess, der möglicherweise länger dauert, aber die Betroffenen wieder zu einem inneren Frieden leiten kann.

In existenziell erschütternden Erfahrungen zuerst einen Sündenbock zu suchen und sein Leid zu klagen, kann heilsam sein.
Ralph Kunz, Theologieprofessor

Ralph Kunz sagt: «In existenziell erschütternden Erfahrungen zuerst einen Sündenbock zu suchen und sein Leid zu klagen, kann heilsam sein. Wenn ich so dem anonymen Schicksal zu trotzen vermag, bin ich nicht nur Opfer, und das vermag das eigene Leid zu lindern.» Das grosse Warum sei eine biblische Frage. Hiob stellt sie Gott. Jesus am Kreuz mit einem Zitat aus Psalm 22 auch: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»

Vorwurf, Jammer, Seufzer

Kunz unterscheidet drei Formen von Klage. Zunächst die Klage als Vorwurf, die der Gläubige an Gott richtet: Wo bist du, wenn ich dich brauche? Warum lässt du mich leiden? Auch Menschen, die nicht an eine göttliche Macht glauben, hätten das Bedürfnis, jemanden oder etwas anzuklagen. Wenn aber die Anklage kein Gegenüber habe und nur auf ein anonymes «Es» stosse, sei es schwieriger, das Leid zu verarbeiten, sagt der Theologe.

Eine zweite Form der Klage sei der Jammer. Die biblischen Beter verwenden dafür Metaphern wie Sumpf oder Grube. Im Jammern spricht der Leidende vor sich selbst über seine Not: «Mir geht es elend, ich bin verloren.»

Wenn dem leidenden Menschen die Kraft ausgeht, muss ich beistehen, das Unausweichliche auszuhalten, und mit ihm nach kleinen Hoffnungen Ausschau halten.
Ralph Kunz, Theologieprofessor

Die dritte Form der Klage sei die elementar-körperliche: wenn der Leidende nur noch seufzen, stöhnen könne und auf Erlösung – vielleicht auch das Sterben – warte.

Sämtliche Klagen verbindet gemäss Kunz ihre expressive Funktion. Es sind an Gott oder an ein «Es» gerichtete Gesten und Gebete, verbale oder nonverbale Hinwendungen zu einem anderen. «Als Seelsorger kann ich für den Menschen vor mir in diesem Moment zur Klagemauer werden», so Kunz. «Ich bin für mein Gegenüber das Gefäss, in das es seine Gefühle legen kann.» 

Der Weg durch die Wüste

Als Seelsorger müsse er die Klage zulassen, auch wenn unausgesprochen bleibe, an wen oder was sie sich richte. «Wenn dem leidenden Menschen die Kraft ausgeht, darf ich keine grossen Versprechungen machen und wie die Freunde Hiobs Gottes Ruf zu verteidigen versuchen. Stattdessen muss ich meinem Gegenüber beistehen, das Unausweichliche auszuhalten, und mit ihm nach kleinen Hoffnungen Ausschau halten.»

Ein solcher Hoffnungsschimmer könne zum Beispiel das kleine Glück sein, dass heute ein guter Morgen ist trotz der Schmerzen. Oder dass im Abschied auch Dankbarkeit spürbar sei. «Ich begleite ihn ein Stück mit auf dem Weg in die Wüste», sagt der Seelsorger.